Neurologen und Psychiater im Netz

Das Informationsportal zur psychischen Gesundheit und Nervenerkrankungen

Herausgegeben von den Berufsverbänden für Psychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik, Nervenheilkunde und Neurologie aus Deutschland.

Behandlung von Tic-Störungen und Tourette-Syndrom

Eine Therapie der Tic-Störung sollte erfolgen, wenn die Symptome so stark ausgeprägt sind, dass es zu Schmerzen, Schlafstörungen oder Leistungsbeeinträchtigung kommt. Gleiches gilt für eine deutliche psychosoziale Beeinträchtigung. Tics können bis heute jedoch nicht ursächlich sondern nur symptomatisch behandelt werden.
Die Therapiemöglichkeiten sind vielfältig und sollten sich nicht nur an der Schwere der Symptome, sondern an der psychosozialen Beeinträchtigung sowie den Bewältigungsmöglichkeiten von Patient und Eltern bzw. dem Entwicklungsstand des Patienten orientieren.

Ein Tourette-Syndrom ist häufig mit einer ADHS oder Zwangsstörungen kombiniert. Ist die begleitende, so genannte komorbide Störung dominant, d.h. beeinträchtigt sie das Kind am meisten, muss sie primär behandelt werden.

Ganz wichtig ist es, die Betroffenen und ihre Angehörigen ausführlich über das Krankheitsbild und die damit verbundenen Probleme aufzuklären. Oft wird die Diagnose erst lange nach Symptombeginn gestellt. Nicht zuletzt deswegen kann eine Aufklärung und Beratung, die so genannte Psychoedukation, bereits eine erhebliche Entlastung darstellen. Es ist wichtig, alle Beteiligten (z.B. auch Lehrer, Schulbegleiter) in einen psychoedukativen Dialog einzubeziehen. Denn nur so können Verständnis vermittelt und Strategien ausgearbeitet werden, die zu einer angemessenen Krankheitsbewältigung führen. Durch Psychoedukation können Folgeerscheinungen wie eine Soziale Phobie (Angsterkrankung) der Patienten entgegengewirkt werden. Bei Patienten mit einer milden Tic-Ausprägung kann die Psychoedukation bereits eine ausreichende Form der Behandlung darstellen.

Bei stärker Betroffenen können eine psychotherapeutische Behandlung zum Erlernen von Kompensationsmechanismen und/oder Medikamente zur Verbesserung der neurobiologisch gesteuerten Bewegungskontrolle eingesetzt werden. Die Behandlung vom Tic- Störungen kommt an der Schnittstelle zwischen der Psychiatrie und Neurologie zu liegen.

Medikamentöse Therapie

Eine medikamentöse Behandlung kann die Tics nur selten vollständig unterdrücken. Vielmehr sollen die entsprechenden Medikamente die Tics soweit lindern, dass psychosoziale Beeinträchtigungen vermindert werden, sie beispielsweise dem Patienten die Eingliederung in das soziale Leben erleichtern und sein allgemeines Wohlbefinden steigern.

Da die einzelnen Tic-Störungen hinsichtlich ihrer Intensität und Ausprägung sehr schwanken, erfolgt die medikamentöse Einstellung mit langsamer Dosissteigerung. Ist sie gelungen und es kommt nach einiger Zeit dennoch zu einer Verstärkung der Tics, so sollte ein Ändern der Medikation erst dann erfolgen, wenn sich die Beschwerden längerfristig (d.h. über Wochen) verschlechtern. Nur so können ein häufiger Medikamenten- und Dosiswechsel vermieden werden.

Innerhalb der atypischen Antipsychotika wird Risperidon zur Behandlung von Tic-Störungen eingesetzt. Weil es nicht selten zu unerwünschten Nebenwirkungen (Müdigkeit, Gewichtszunahme) kommt, werden oft die Benzamide Tiaprid und Sulpirid eingesetzt. Als weitere Behandlungsalternative kommt das atypische Antipsychotikum Aripiprazol in Betracht.

Aus der Gruppe der klassischen Antipsychotika können Halperidol und Pimozid zur Behandlung von Tic-Störungen eingesetzt werden. Wegen eines vergleichsweise schlechteren Nebenwirkungsprofils dieser klassischen gegenüber den atypischen Antipsychotika, werden die neueren atypischen Antipsychotika bevorzugt.

Weitere Substanzen, die eine Tic-reduzierende Wirkung haben könnten, sind Tetrabenazin (Dopaminspeicherentleerer), Topiramat (Antiepileptikum) oder Tetrahydrocannabinol. Sie können als „Reservemedikamente“ eingesetzt werden.

In manchen Fällen kommen Botulinum-Toxin-Injektionen in Betracht, wenn Tics konstant auftreten und auf von außen gut zugängliche Muskeln beschränkt sind.

Bei gleichzeitig bestehender ADHS sind Clonidin, Guanfacin und Atomoxetin weitere Behandlungsoptionen.

Nicht-medikamentöse Therapieformen

Nicht-medikamentöse Maßnahmen sind vor allem als Ergänzung zur Krankheitsbewältigung zu sehen, auch wenn Verhaltenstherapie – vor allem bei Jugendlichen/Erwachsenen - in einzelnen Fällen die Tics deutlich reduzieren kann.

Psychotherapie

Besonders bewährt hat sich bei den psychotherapeutischen Methoden eine Verhaltenstherapie mittels „Habit Reversal Training“ (HRT) oder „Exposure and Response Prevention Training“ (ERPT). Hierdurch kann es zu einer Tic-Reduktion von 30 Prozent kommen. Allerdings muss bei diesen Maßnahmen das Lebensalter der erkrankten Kinder berücksichtigt werden. Denn die meisten jüngeren Kinder (d.h. unter 10 Jahren) sind noch nicht in der Lage die dem jeweiligen Tic vorausgehenden Sensationen zu erkennen und mit einer „Tic-Gegenantwort" zu reagieren.
Das HRT-Verfahren dient dazu, die Wahrnehmung dem jeweiligen Tic vorausgehender Sensationen zu verbessern und eine motorische Gegenantwort auf erste mögliche Tic-Anzeichen (Muskelspannung, Kribbeln) zu entwickeln, d.h. eine dem Tic entgegen gerichtete Bewegung auszuführen, die im Alltag unauffällig ist. Das ERPT-Verfahren zielt darauf ab, den Automatismus zu durchbrechen, dass einem Vorgefühl auch immer ein Tic folgen muss.

Entspannungstechniken

Die progressive Muskelentspannung nach Jakobsen wird ebenfalls als begleitende Therapiemaßnahme bei Tic-Störungen angewandt. Isoliert durchgeführte Entspannungsverfahren gelten jedoch als unwirksam in der Behandlung von Tics. Auch bei diesem Verfahren ist eine hohe Kooperationsfähigkeit notwendig, so dass es im Kindesalter eher selten zum Einsatz kommt. Reine Entspannungstechniken führen nur sehr selten zu einer wirklichen Verbesserung der Tic-Störungen. Sie sind aber sinnvoll, wenn Kinder oder Jugendliche aufgrund der Schwere der Tics über einen längeren Zeitraum nicht zur Ruhe kommen.

Neurochirurgie

Spezielle Hirnoperationen werden nur sehr selten und bei extrem schweren Fällen in Betracht gezogen. Dabei zerstört man bestimmte Hirnareale bzw. führt eine so genannte Tiefenhirnstimulation durch, um schwerste Tics, Zwänge und Selbstverletzungen zu verhindern, die sich medikamentös nicht mehr beeinflussen lassen.

Für viele Betroffene (insbesondere Tourette-Betroffene) stellt darüber hinaus die Teilnahme an Selbsthilfegruppen eine wichtige Unterstützung dar.

Fachliche Unterstützung: Prof. Dr. Veit Roessner, Dresden (DGKJP)