Ein Schritt vorwärts – zwei Schritte zurück Erstmals gab es seit 2009 Hoffnung: Über viele Jahre war es in den kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken Deutschlands zu erheblichem Personalmangel gekommen (siehe Erhebung der Aktion Psychisch Kranke 2005). Grund: Die jährliche Steigerung des Budgets kinder- und jugendpsychiatrischer Krankenhausabteilungen war wesentlich niedriger ausgefallen als die bundesweiten Lohn- und Sachkostensteigerungen (sogenannte BAT-Schere). 2009 stimmten Bundestag und Bundesrat dem Krankenhausfinanzierungsreformgesetz (KHRG) zu. Dadurch sollte nach jahrelanger extremer personeller Unterbesetzung endlich wieder die Finanzierung von ausreichend Personal gemäß Psychiatrie- Personalverordnung (PsychPV) ermöglicht werden. Das kam der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen sehr zugute.Die Abgeordneten des Bundestages waren der Auffassung, dass sie mit dem KHRG ein gutes Gesetz gemacht hatten. Diese Einschätzung wurde aber von Beteiligten und Betroffenen immer weniger geteilt, je weiter die Vorbereitungen für das neue Entgeltsystem vorangetrieben wurden (Peter Weiß, MdB, Vorsitzender der Aktion Psychisch Kranke, 2011).Denn in § 17d KHRG bzw. im vom Deutschen Bundestag am 14. Juni 2012 verabschiedeten Gesetz zur Einführung eines pauschalierenden Entgeltsystems für psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen (Psych-Entgeltgesetz – PsychEntgG) ist die Aufhebung der Psych-PV zum 1. Januar 2017 beschlossen worden. Somit wird eine wegweisende Errungenschaft zur Sicherung der Behandlungsqualität in der Kinder- und Jugendpsychiatrie vernichtet und damit ein Personalabbau ermöglicht, der bis weit hinter die Mangelsituation führt, die zu der Verabschiedung des Gesetzes 2009 geführt hat!Es droht noch wesentlich schlimmer zu kommen …Zum 1. Januar 2013 soll das neue Entgeltsystem für die Vergütung kinder- und jugendpsychiatrischer Leistungen eingeführt werden, das nach dem Willen des Bundesministeriums für Gesundheit in seiner Ausgestaltung keinerlei Rücksicht auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten 20 Jahre nimmt. Es wird vielmehr ein Abrechnungssystem etabliert, das Kliniken begünstigt, die Patienten möglichst schnell entlassen. Es werden nicht Leistungen durch Menschen für Menschen honoriert, sondern wie in der Somatik Diagnosegruppen eingeführt und prinzipiell auf möglichst kurze Verweildauern abzielt, ohne komplemetäre sektorübergreifende Angebote auszubauen. Einem rasanten Personalabbau bis zu Zuständen wie vor 10 Jahren Jahren oder gar zu einer „Verwahrpsychiatrie“ wie vor der Psychiatrie Enquête wird damit Tür und Tor geöffnet!Das BMG hört zwar an - aber nicht zu! Anhörungen als PseudolegitimationNachdem seit 2009 zahlreiche intensive Gespräche zwischen InEK (Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus, 2001 von den Spitzenverbänden der Krankenkassen, dem Verband der Privaten Krankenversicherung und der Deutschen Krankenhausgesellschaft gegründet), Krankenkassen, Deutscher Krankenhausgesellschaft und psychiatrischen Fachverbänden geführt worden waren und zusammen mit dem DIMDI (Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information, nachgeordnete Behörde des Bundesministeriums für Gesundheit) aufwendige leistungsorientierte Kodierungs- bzw. Abrechnungsvorschriften entwickelt, abgestimmt und jährlich weiterentwickelt worden waren (aktuelle Version: OPS Version 2012 „Behandlung bei psychischen und psychosomatischen Störungen und Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen“ 9-65...9-69), hat das InEK nun all diese Bemühungen kurzfristig verworfen und eigenmächtig Diagnosen bezogene Kodierungen und Verweildauer bezogene Honorarkategorien eingeführt, die keinerlei fachlichen Bezug aufweisen und sowohl medizinisch als auch statistisch-mathematisch als höchst fragwürdig einzustufen sind!Das InEK räumt zwar weitgehende Mängel ein, dennoch werden immer neue nicht nachvollziehbare Tatsachenbehauptungen aufgestellt um der Öffentlichkeit und den Parlamentariern Sand in die Augen zu streuen. Um eine faire Diskussion zu führen, müsste das InEK diesen mit öffentlichen Geldern und Dank der Mitwirkung der Behandler entstandenen Datensatz als public file offenlegen statt immer neue Behauptungen auf Interpretationen eines unzureichenden Datensatzes zu stützen, statt diesen offenzulegen.Die Deutsche Krankenhausgesellschaft, die mit den Vertretern der Krankenkassen im Rahmen der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen über dieses System verhandelt hat, hat diese Gespräche für gescheitert erklärt, da das Vorhaben nicht hinreichend ausgereift ist.Obwohl sich die Fachverbände einig sind, dass dieses System – „Pauschalierendes Entgeltsystem in Psychiatrie und Psychosomatik (PEPP) genannt – völlig ungeeignet ist für ein fachlich angemessenes leistungsorientiertes und pauschalierendes Vergütungssystem auf der Grundlage von tagesbezogenen Entgelten, wie es das Gesetz vorschreibt, hat nun das Bundesministerium für Gesundheit seine Absicht bekundet, diesen Entwurf per Ersatzvornahme zur Grundlage der Finanzierung in psychiatrischen und psychosomatischen Krankenhäusern zu machen!Obwohl das BMG gravierende Fehler und eine mangelnde Datenbasis einräumt, wurde bereits in der ersten Anhörung sehr deutlich, dass das BMG alle fachlichen Einwände ignoriert. Kinder und Jugendliche mit psychischen Problemen ziehen den Kürzeren!Laut PEPP-Entgeltkatalog „PK14Z“ sollen ausgerechnet Kinder und Jugendliche, die bisher in der Gesellschaft kaum eine Lobby haben, nun auch in der Krankenhausbehandlung zu kurz kommen: Bereits nach weniger als der Hälfte der Behandlung (ab Tag 16 von durchschnittlich 38,7 Tagen) sollen sie nur noch Zweidrittel der notwendigen Leistungen erhalten, während in der psychosomatischen Behandlung Erwachsener keine Verweildauer bezogenen Abstufungen vorgenommen wurden, sondern vom ersten bis zum letzten Tag die gleichen Leistungen ermöglicht werden.Die Konvention über die Rechte des Kindes verbietet das!In Artikel 3 der Konvention über die Rechte des Kindes, am 26. Januar 1990 von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet (Zustimmung von Bundestag und Bundesrat durch Gesetz vom 17. Februar 1992 - BGB1. II S.121) heißt es zum Wohl des Kindes: „(1) Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleich viel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“In Artikel 24 „Gesundheitsvorsorge“ heißt es:(1) Die Vertragsstaaten erkennen das Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit an sowie auf Inanspruchnahme von Einrichtungen zur Behandlung von Krankheiten und zur Wiederherstellung der Gesundheit. Die Vertragsstaaten bemühen sich sicherzustellen, dass keinem Kind das Recht auf Zugang zu derartigen Gesundheitsdiensten vorenthalten wird.(2) Die Vertragsstaaten bemühen sich, die volle Verwirklichung dieses Rechts sicherzustellen, und treffen insbesondere geeignete Maßnahmen, umb) sicherzustellen, dass alle Kinder die notwendige ärztliche Hilfe und Gesundheitsfürsorge erhalten. In Artikel 39 „Genesung und Wiedereingliederung geschädigter Kinder“ heißt es: Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um die physische und psychische Genesung und die soziale Wiedereingliederung eines Kindes zu fördern, das Opfer irgendeiner Form von Vernachlässigung, Ausbeutung oder Misshandlung, der Folter oder einer anderen Form grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe oder aber bewaffneter Konflikte geworden ist. Die Genesung und Wiedereingliederung müssen in einer Umgebung stattfinden, die der Gesundheit, der Selbstachtung und der Würde des Kindes förderlich ist.Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung oder Autismus werden noch stärker benachteiligt!Laut PEPP-Entgeltkatalog „PK01Z“ bekommen Kinder und Jugendliche mit „Intelligenzstörungen, tief greifenden Entwicklungsstörungen", also ausgerechnet solche Patienten, die oftmals eine längere stationäre Behandlung brauchen, nur die Hälfte der stationären Behandlung (bis zum 21. Tag von durchschnittlich 38,7 Tagen) angemessene Leistungen, danach nur noch 68% der notwendigen Unterstützung.In Artikel 23 „Förderung behinderter Kinder“ der Konvention über die Rechte des Kindes heißt es:(1) Die Vertragsstaaten erkennen an, dass ein geistig oder körperlich behindertes Kind ein erfülltes und menschenwürdiges Leben unter Bedingungen führen soll, welche die Würde des Kindes wahren, seine Selbständigkeit fördern und seine aktive Teilnahme am Leben der Gemeinschaft erleichtern.(2) Die Vertragsstaaten erkennen das Recht des behinderten Kindes auf besondere Betreuung an und treten dafür ein und stellen sicher, dass dem behinderten Kind und den für seine Betreuung Verantwortlichen im Rahmen der verfügbaren Mittel auf Antrag die Unterstützung zuteil wird, die dem Zustand des Kindes sowie den Lebensumständen der Eltern oder anderer Personen, die das Kind betreuen, angemessen ist.(3) In Anerkennung der besonderen Bedürfnisse eines behinderten Kindes ist die nach Absatz 2 gewährte Unterstützung soweit irgend möglich und unter Berücksichtigung der finanziellen Mittel der Eltern oder anderer Personen, die das Kind betreuen, unentgeltlich zu leisten und so zu gestalten, dass sichergestellt ist, dass Erziehung, Ausbildung, Gesundheitsdienste, Rehabilitationsdienste, Vorbereitung auf das Berufsleben und Erholungsmöglichkeiten dem behinderten Kind tatsächlich in einer Weise zugänglich sind, die der möglichst vollständigen sozialen Integration und individuellen Entfaltung des Kindes einschließlich seiner kulturellen und geistigen Entwicklung förderlich ist.LiteraturquellenAktion Psychisch Kranke (Hrsg, 2007) Evaluation der Psychiatrie-Personalverordnung: Abschlussbericht der Psych-PV-Umfrage 2005. Psychiatrie-Verlag, BonnSchepker, R., Grabbe, Y., Jahn, K. (2003): Verlaufsprädiktoren mittelfristiger Behandlungen im Längsschnitt – gibt es eine Verweildaueruntergrenze in der stationären Therapie? Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 52, 338-353Weiß, P. (2011) www.apk-ev.de/publikationen/Workshop_Entgeltsystem%202011.pdfDr. Ingo Spitczok von Brisinski, Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Leitenden Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (BAG), Vorstandsmitglied des Berufsverbandes für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland (BKJPP), LVR-Klinik Viersen, Horionstr. 14, 41749 Viersen, Tel. 02162-965000, Email: Ingo.SpitczokvonBrisinski@lvr.de, Website www.kinderpsychiater.orgProf. Dr. Gerd Schulte-Körne, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP), Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Klinikum der Universität München, Nußbaumstr. 5a, 80336 München, Tel.: 089-5160-5901, Email: kjp@med.uni-muenchen.de, www.dgkjp.deDr. Maik Herberhold, Vorsitzender des Berufsverbandes für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland (BKJPP), Hauptstr. 207, 44892 Bochum, Tel.: 0234-298 9620, EMail: herberhold@bkjpp.de, Website www.kinderpsychiater.org
Bundesministerium für Gesundheit missachtet fachliche Einschätzungen und befürwortet kinderfeindliche Regelung