In vielen Fällen kann den Betroffenen auch die Teilnahme an einer Studie offeriert werden, was für sie den Vorteil einer noch genaueren Diagnose hat. Im Gegensatz zu reinen Beratungsstellen ist die Abhängigenambulanz eine psychiatrische Einrichtung. „Bei unserer Forschung berücksichtigen wir sowohl soziale als auch biologische Faktoren der Medienabhängigkeit“, erklärt Professor Dr. Thomas Hillemacher, stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie und Leiter des Bereichs für Suchtmedizin.
Studie: 2,4 Prozent der Jugendlichen sind internetabhängig
Medien, Computer und Internet spielen im beruflichen und privaten Bereich vieler Menschen eine immer größere Rolle. Die Dauer und auch die Intensität der Nutzung sind dabei sehr unterschiedlich. Während für die meisten Menschen der Umgang mit modernen Medien unproblematisch ist, kann er für andere negative Auswirkungen haben – beispielsweise der Verlust anderer Interessen, sozialer Rückzug oder Depressionen. Das kann bis zur Abhängigkeit führen. Wissenschaftler der Universitäten Lübeck und Greifswald veröffentlichten 2011 eine Studie (PINTA) zur Häufigkeit von Internetabhängigkeit. Danach liegt in der Altersgruppe der 14- bis 24-Jährigen bei 2,4 Prozent eine Abhängigkeit vor, bei gleichem Anteil von Frauen und Männern. Internetabhängige Mädchen und Frauen nutzen vorwiegend soziale Netzwerke im Internet, eher selten Onlinespiele. Jungen und Männer nutzen ebenfalls soziale Netzwerke, aber deutlich häufiger als Mädchen und Frauen auch Onlinespiele.
„Nicht jede exzessive Nutzung des Internets ist eine Abhängigkeit“
„Wenn das Spielen ganz wesentlich den Alltag des Betroffenen beeinflusst und negative Folgen für ihn hat, könnte das ein Hinweis darauf sein, dass eine Abhängigkeit vorliegt“, erläutert Professor Hillemacher. Weitere Anzeichen können Unruhe und Reizbarkeit bei „Entzug“, also Nicht-Spielen, sowie erfolglose Versuche, die Teilnahme an Spielen zu kontrollieren, sein. „Nicht jede exzessive Nutzung bedeutet, dass eine Abhängigkeit vorliegt“, betont Professor Hillemacher. Bei vielen Betroffenen handelt es sich nur um eine Phase, aus der sie ohne professionelle Hilfe wieder heraus kommen „In Beratungsgesprächen können wir klären, ob bei dem jeweiligen Medienverhalten von Sucht gesprochen werden kann oder nicht“, erklärt Professor Hillemacher. „Manchmal stecken auch andere psychische Erkrankungen, beispielsweise eine Depression, dahinter.“ Legt die Diagnose eine psychiatrische Behandlung nahe, wird den Betroffenen eine Psychotherapie angeboten. Zurzeit findet diese in Einzelgesprächen statt, für die Zukunft sind auch Gruppenangebote geplant.
Betroffener: „Computerspiele bestimmten meinen Alltag“
Ein Patient der Abhängigenambulanz ist Marvin (31). Den ersten Kontakt zu Videospielen hatte der Student bereits im Grundschulalter. Ein Freund von ihm hatte eine Spielkonsole. „Immer, wenn ich ihn besucht habe, haben wir daran gespielt“, erinnert sich Marvin. Schon bald bekam er seine eigene Spielkonsole, mit 12 oder 13 Jahren dann seinen ersten PC. „Von da an habe ich nur noch PC-Spiele gespielt.“ Jahrelang verbrachte er durchschnittlich etwa drei Stunden pro Tag am Rechner, manchmal unterbrochen von einigen spielfreien Tagen. Im Alter von 19 Jahren entdeckte er dann ein Computer-Rollenspiel (RPG, computer role-playing game), das ihn sehr fesselte. „Es war ein Spiel ohne Ende, ich fing jedes Mal dort an, wo ich beim letzten Mal aufgehört hatte. Und je häufiger man es spielte, desto erfolgreicher war man“, berichtet Marvin. Zwei bis drei Jahre lang beherrschte dieses Spiel seinen Tagesablauf – häufig von morgens bis abends. Danach bestimmte ein Echtzeit-Strategiespiel (RTS, real-time strategy) lange Zeit sein Leben. Spiele dieser Art basieren auf Runden. „Obwohl eine Partie meist nur zwischen 40 und 60 Minuten dauerte, wollte ich es immer wieder spielen. Es war für mich eine aufregende Herausforderung“, erklärt Marvin. Die Freunde, die Familie, die Hobbys und das Studium waren mittlerweile völlig in den Hintergrund gerückt. „Es war zwar alles noch vorhanden, doch ich hatte es sehr vernachlässigt.“
Gespräche in der Ambulanz bringen „Steine ins Rollen“
Der Einschnitt kam mit Mitte 20. „Ich musste erkennen, dass es in meinem Leben seit Jahren überhaupt keine Entwicklung gegeben hatte, ich war beispielsweise mit meinem Studium nicht weiter gekommen und hatte auch wenig Erfahrungen mit Frauen. Das löste Frustration und Angst in mir aus. So wollte ich nicht weiter machen“, beschloss Marvin. 2009 begann er eine Behandlung in der Abhängigenambulanz der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie, brach diese aber wieder ab. In den darauffolgenden Jahren wechselten sich bei Marvin spielintensive mit spielfreien Zeiten ab. Auch zwei komplett abstinente Jahre waren darunter. Vor etwa einem Jahr, während einer stark depressiven Phase, nahm er den Kontakt zur Abhängigenambulanz wieder auf. Seitdem kommt er regelmäßig zu Gesprächen mit Wolfgang Schurtzmann, Sozialarbeiter in der Ambulanz, in die Klinik. „Das gibt mir Halt und eine Perspektive für die Zukunft. Ich habe jetzt weniger Angst. Herr Schurtzmann hat einige Steine ins Rollen gebracht“, sagt der junge Mann, der das neue Jahr spielfrei begonnen hat.
Behandlung bietet gute Chancen auf Genesung
Menschen, die mit dem Problem exzessiven Medienkonsums die Abhängigenambulanz aufsuchen, befinden sich meist in einem Ambivalenzkonflikt: Einerseits erleben sie bewusst die negativen Auswirkungen ihres Verhaltens, andererseits können sie sich aber trotzdem nicht von ihrem „Lieblingsspielzeug“ lösen. „Die Therapie ist so aufgebaut, dass im ersten Schritt ‚kleine Lösungen’ angestrebt werden, das heißt die Betroffenen lernen, zu gewissen Zeiten nicht zu spielen und sich alternativ mit anderen Dingen zu beschäftigen. Im zweiten Schritt geht es dann darum, die spielfreien Zeiten zu vergrößern und sich mehr mit realen Dingen auseinanderzusetzen“, erklärt Wolfgang Schurtzmann. Die Behandlung der Medienabhängikeit bietet ähnlich wie bei anderen Abhängigkeitserkrankungen gute Chancen auf Genesung. „Allerdings sollten die Patienten die Behandlung unbedingt über einen längeren Zeitraum absolvieren“, erläutert Dr. Gregor Szycik, psychologischer Psychotherapeut in der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie. „Wichtig dabei ist die ganzheitliche Betrachtung des Patienten mit spezieller Berücksichtigung möglicher Komorbiditäten und Entwicklungsdefizite der Patienten.“
Niederschwelliges Angebot: Überweisung vom Hausarzt reicht
Das Behandlungsangebot der Abhängigenambulanz richtet sich an Erwachsene ab 18 Jahren. „Die Betroffenen brauchen lediglich eine Überweisung vom Hausarzt, eine Anmeldung ist nicht erforderlich“, betont Professor Hillemacher. Interessierte können sich immer montags, mittwochs und freitags zwischen 9 und 10 Uhr in der Ambulanz vorstellen. Die Einrichtung befindet sich in der MHH-Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie im Gebäude K9, Carl-Neuberg-Straße 1, 30625 Hannover. Telefonischer Kontakt ist möglich unter (0511) 532-9190.
Quelle: Medizinische Hochschule Hannover