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Herausgegeben von den Berufsverbänden für Psychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik, Nervenheilkunde und Neurologie aus Deutschland.

Stellungnahme zum UNICEF Bericht zur Lage der Kinder in Industrieländern 2013

UNICEF veröffentlichte im April 2013 erneut einen komparativen Bericht zur Lage der Kinder in Industrieländern. Dazu haben mehrere Fachgesellschaften Stellung genommen.

UNICEF veröffentlichte im April 2013 erneut einen komparativen Bericht zur Lage der Kinder in Industrieländern [UNICEF Office of Research, Child wellbeing in rich countries, A comparative overview (Innocenti Report Card 11), April 201312]. Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. (DGKJP), der Bundesverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland e. V.(BKJPP) und die Bundesarbeitsgemeinschaft der Leitenden Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. (BAG KJPP) sowie deren gemeinsame Stiftung die Stiftung Achtung! Kinderseele begrüßen dieses generelle Benchmarking durch UNICEF.

Positiv ist, dass sich das allgemeine Lebensumfeld der Kinder (wie z.B. der materielle Wohlstand) in vielen Ländern allgemein verbessert hat. Sehr erfreulich sind die Erfolge im Bereich der Bildung und bei der Reduktion von Risikoverhalten, wie z. B. Rauchen, in Deutschland. Im Durchschnitt der fünf untersuchten Dimensionen (materieller Wohlstand, Gesundheit und Sicherheit, Bildung, Verhalten und Risiken, Wohnen und Umwelt) ist Deutschland mit dem sechsten Platz in der Rangreihenfolge noch das am besten platzierte, bevölkerungsreiche Industrieland. Deutschland liegt hinter den führenden Niederlanden, Norwegen, Island, Finnland und Schweden. Im Durchschnitt aller Rankings von 1-29 erreichte Deutschland 9 Punkte.

Als positives Ergebnis von –auch kinder- und jugendpsychiatrisch beratenen- Präventionsbemühungen zu bewerten ist die auf nur 23% betroffener Schüler abgefallene Rate an Prügeleien in der Schule, bezogen auf 12 Monate. Damit hat Deutschland das beste Schulklima aller Länder. Gleiches gilt für die Abnahme des Substanzkonsums, wo Deutschland den größten Abfall verzeichnete, beim Rauchen allerdings von einem eher hohen Niveau ausgehend.

Kritischer ist die Lage für die Kinder, die unter absoluten Entbehrungen leben, erfasst mit einem Deprivationsindex (Mangel an 14 verschiedenen Gütern und Angeboten). Erwartungsgemäß finden sich die höchsten Deprivationsraten in ärmeren Staaten Europas, wie z. B. Rumänien. Deutschland liegt hier aber nur auf Platz 14 und "schneidet so deutlich schlechter ab als Dänemark oder Schweden, obwohl alle drei Länder hinsichtlich des pro Kopf Einkommens und der wirtschaftlichen Entwicklung auf einem ähnlichen Niveau liegen. Auch Großbritannien, Irland und Zypern liegen klar besser als Deutschland."

Dieser Aspekt tatsächlicher Deprivationsbedingungen für Kinder und Jugendliche sollte aus Sicht der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie stärker bei der Debatte um Armutsfolgen und Kinderarmut in Deutschland berücksichtigt werden, da solche so genannten Deprivationsbedingungen stark mit schulischen Chancen und dem Gesundheitsverhalten korrelieren und da unter Deprivationsbedingungen das Risiko für seelische Störungen steigt. (vgl. auch die Ergebnisse des KiGGS Surveys des Robert-Koch-Instituts.)

Bestürzend und Anlass dieser Stellungnahme ist der Befund, dass trotz der insgesamt eher guten Rahmenbedingungen für das Wohlbefinden von Kindern, die subjektive Lebenszufriedenheit von Kindern in Deutschland, mit Platz 22 von 29 besonders schlecht ist. Deutschland ist hier im Vergleich zu den Voruntersuchungen vom vorderen Feld 6 in den Tabellenkeller abgestiegen. Es gelingt hierzulande nicht, wie z. B. in den Niederlanden, hervorragende Rahmenbedingungen mit gefühlter Lebenszufriedenheit, dem subjektiven Gefühl einer behüteten und glücklichen Kindheit zu verbinden und Vertrauen zu den Eltern zu entwickeln. Während also in vielen Ländern Rahmenbedingungen und subjektive Lebenszufriedenheit korrelieren, zeigt Deutschland die stärkste Diskrepanz zu Ungunsten der Lebenszufriedenheit, während z. B. in Griechenland die Rahmenbedingungen hoch problematisch geworden sind, die subjektive Lebenszufriedenheit der Kinder von diesen aber als hoch wahrgenommen wird und stark gestiegen ist. Während in den letzten Jahren in einer breiten gesellschaftlichen Diskussion sehr viel für die Verbesserung, vor allem im Bildungsbereich und für die Reduktion von Risiken getan wurde, werden die häufig als weiche Faktoren betrachteten Dimensionen der emotionalen Entwicklung von Kindern, ihr Bindungsbedürfnis, die Entwicklung eines eigenen Selbstwerts, kaum öffentlich diskutiert und durch geeignete Maßnahmen adressiert. Die Fachverbände der Kinder- und Jugendpsychiatrie (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V.; Bundesarbeitsgemeinschaft der Leitenden Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V.; Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland e. V.) haben sich angesichts der Ergebnisse des KiGGS Surveys des Robert-Koch-Instituts (www.kiggs-studie.de), mit der dort festgestellten hohen Rate an emotionalen Verhaltensstörungen bei Kindern in Deutschland, zur Gründung der Stiftung „Achtung! Kinderseele" entschlossen, um in dieser Gesellschaft Achtsamkeit für die seelischen, emotionalen Bedürfnissen von Kindern, für die frühe Förderung ihres Selbstwerts, zu steigern. Unsere Auffassung ist, dass (seelische) Gesundheit, Bildung, Bindung und emotionale Sicherheit untrennbar zusammengehören und in Deutschland gefördert werden müssen.

Die UNICEF Studie, die die Situation der Kinder in Deutschland mit dem Titel „Leistungsstark aber unglücklich?" beschreibt, ist eine Herausforderung an die Fachverbände sowie an die Politik und das gesamte gesellschaftliche Umfeld, diese so genannten weichen Faktoren des emotionalen Klimas, der Selbstwertentwicklung, der Pflege von Beziehungen, der Bindung und der Stärkung der Familien, in allen Altersgruppen stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Erfreulicherweise hat die Erkenntnis, dass die Vermittlung von Entwicklungschancen Bindungs-, Gesundheits- und Bildungsförderung mit einschließt, sich im Bereich der so genannten „Frühen Hilfen" in der frühen Kindheit in den letzten Jahren in Deutschland schon stärker durchgesetzt. Doch die emotionalen Bedürfnisse, die Notwendigkeit sich aufgehoben, geliebt und gefördert zu fühlen, die ja ebenso zu den in der UN-Kinderrechtskonvention definierten Basisbedürfnissen von Kindern gehören wie die klaren materiellen Rahmenbedingungen des Wohlergehens, müssen in allen Altersstufen gefördert werden. Gerade bei Schulkindern und Jugendlichen werden hier eklatante Defizite deutlich. Die Stiftung „Achtung! Kinderseele" denkt deshalb, nach der erfolgreichen Etablierung ihrer Kindertagesstätten- Patenprojekte im frühkindlich präventiven Bereich, nun verstärkt an Projekte zur emotionalen Förderung der Lebenszufriedenheit bei Schulkindern und Jugendlichen im Übergang zu Arbeit und Berufsausbildung/Studium.

Unglücklich sein und emotionale Belastungen bei Kindern und Jugendlichen können und müssen frühzeitig wahrgenommen werden. Noch immer ist die Wahrnehmung von emotionalen Problemen bei Kindern für viele Eltern schambesetzt. Aus Angst vor Stigmatisierung unterbleiben deshalb oft eine rechtzeitige Hilfesuche und eine frühzeitige professionelle Unterstützung. Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V., die sich mit den anderen beiden Fachverbänden auch im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen-medizinischen Fachgesellschaften für eine, auf evaluiertem Wissen basierende (evidenzbasierte) Behandlung seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen einsetzt, betont, dass Kinder nichnur Förderung ihrer Leistungsfähigkeit brauchen, um später z. B. im Arbeitsleben ihren Platz zu finden, sondern es hängt entscheidend von ihrer emotionalen Befindlichkeit und von ihrem Selbstwert ab, ob es ihnen gelingt, im Rahmen der Autonomieentwicklung so weit zu kommen, dass sie ihr Leistungspotential auch umsetzen können und selbst zu warmherzigen und beziehungsfähigen Erwachsenen in einer nachwachsenden Generation werden.

Die Stiftung „Achtung! Kinderseele" und die kinder- und jugendpsychiatrischen Fachverbände unterstützen deshalb die Forderungen von UNICEF für Deutschland nachdrücklich

• Kampf gegen Kinderarmut, insbesondere Verhinderung von Deprivationsbedingungen• Kindergesundheit fördern• Kinder und ihre Rechte stärken

Darüber hinaus fordern DGKJP, BAG KJPP, BKJPP und die Stiftung „chtung! Kinderseele" eine stärkere Achtsamkeit für die seelische Befindlichkeit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Nach der erfolgreichen Agenda zur Verbesserung, z. B. der schulischen Rahmenbedingungen nach dem PISA Schock, ist nun eine vergleichbare Anstrengung zur Förderung des „motionalen Wohlbefindens" und der wahrgenommenen Lebenszufriedenheit von Kindern in Deutschland zu fordern.

Zusammenfassend bleibt folgendes festzuhalten:Bildung und Leistungsbereitschaft sind eine Seite, die erfreulicherweise in Deutschland offenbar hoch ausgeprägt ist. Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen, sowie emotionale Aspekte kindlichen Aufwachsens scheinen in der Zukunft dagegen DIE Aufgabe für die Gesellschaft in Deutschland zu sein.

Gemeinsame Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP), des Berufsverbands für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland e. V. (BKJPP) und der Bundesarbeitsgemeinschaft der Leitenden Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. (BAG) sowie der gemeinsamen Stiftung „Achtung! Kinderseele“ zum UNICEF Bericht zur Lage der Kinder in Industrieländern 2013(Prof. Dr. J.M. Fegert, Prof. Dr. G. Schulte-Körne, Dr. med. M. Herberhold, Dr. med. I. von Spitczok Brisinski, Prof. Dr. G. Lehmkuhl)

UNICEF-Berichte: 1http://www.unicef.de/fileadmin/content_media/projekte/Themen/Kinderrechte/UNICEF-Berichte/UNICEF-Info_zur_Lage_der_Kinder_in_Industrielaendern_2013.pdf ;

2http://www.unicef.de/fileadmin/content_media/projekte/Themen/Kinderrechte/UNICEF-Berichte/UNICEF-ReportCard11-Child-well-being-in-rich-countries.pdf