Das Tourette-Syndrom (TS) wird zu den neuronalen Entwicklungsstörungen des zentralen Nervensystems gerechnet. Bei der Störung treten komplexe vokale und multiple motorische Tics kombiniert auf – d.h. es kommt zu unwillkürlichen Lautäußerungen sowie zu Bewegungsabfolgen an denen mehrere Muskelgruppen beteiligt. Sowohl die Lautäußerungen als auch die Körperbewegungen sind nicht oder nur bedingt willentlich beeinflussbar. Als Ursache der Tics werden Anomalien in bestimmten Hirnbereichen, den Frontal-/Basalganglien angesehen, die zu den Verhaltensweisen führen.
Bei verschiedenen neuronale Entwicklungsstörungen, zu denen auch das TS gezählt wird, fallen neben den störungsbedingten Symptomen auch besondere Stärken oder Besonderheiten bei den Betroffenen auf. Weil solche Begleitaspekte bei dem Tourette-Syndrom bislang nicht untersucht wurden, nahmen sich Wissenschaftler um Cristina Dye von der britischen Newcastle University dies zum Anlass, eine entsprechende Studie durchzuführen.
Im Untersuchungssetting sollten 13 Kinder mit Tourette-Syndrom und 14 Kinder ohne TS (Kontrollgruppe) im Alter zwischen 8 und 16 Jahren frei erfundene Wörter wiederholen. Hierfür muss das Gehirn, vor dem Hintergrund der phonologischen Regeln der jeweiligen Muttersprache, ungewohnte Silben neu zusammensetzen (z.B. "naichovabe") sowie diese Wörter durch Steuerung der Artikulationsorgane artikulieren. Das Aussprechen der Kunstwörter gelang beiden Gruppen gleich gut. Die Kinder mit TS waren dabei jedoch erheblich schneller, sie vermochten die Lautketten rascher zu artikulieren.
Eine ähnliche Tendenz zeigte sich auch bei einem Versuch, bei dem Bilder betrachtet und das Motiv benannt werden sollte. Die Teilnehmer mit Tourette-Syndrom waren bei der Benennung von Bildern mit manipulierten Motiven schneller als die Kontrollgruppe. Waren die Motive nicht manipuliert, gelang es beiden Gruppen gleich schnell, die Bildinhalte zu benennen.
Die Erkenntnisse dieser Untersuchung könnten für die Diagnostik bei auffälligen Kindern von Bedeutung sein. Bei den meisten neurologischen Entwicklungsstörungen treten Schwierigkeiten beim Zusammensetzen von Lauten auf. Nach Ansicht der Studienautorin könnte die in der Studie ermittelte Stärke in der Sprach- und Lautproduktion bei Kindern mit Tourette-Syndrom möglicherweise zur Diagnose des Tourette-Syndroms bei Risikokindern verwendet werden.
Tourette-Syndrom kann auch Vorteile mit sich bringen
Die phonologische Informationsverarbeitung findet in denselben Strukturen des Gehirns statt, wie das morphologische Wissen. Diese Tatsache bestätigt die Gruppe um Dye in ihrer Ansicht, dass das Tourette-Syndrom nicht nur negative Aspekte mit sich bringt: "Wir glauben, dass die Abweichungen im Gehirn, die dem Tourette-Syndrom zu Grunde liegen und mit den Tics zusammenhängen, auch dazu führen könnten, dass andere Prozesse hingegen schneller ablaufen."
Quelle: Spektrum.de