Unter nicht suizidalem selbstverletzendem Verhalten (NSVV) versteht man die freiwillige, wiederholte und direkte Zerstörung von Körpergewebe, die sozial nicht akzeptiert ist und wobei keine suizidale Absicht besteht. Am häufigsten treten bei Selbstverletzung wiederholt oberflächliche Schnittverletzungen mit scharfen Gegenständen wie zum Beispiel Rasierklingen auf. Auch Verbrühungen und Verbrennungen (z.B. mit einer Zigarette) sowie seltener Haare ausreißen, Beißen, Verschlucken giftiger Substanzen, mit dem Kopf gegen die Wand schlagen oder das willentliche Brechen von Knochen kommen vor. Die Verletzungen können in jeder Körperregion auftreten, wobei gut selbst zu erreichende Körperregionen bevorzugt werden.
Selbstverletzendes Verhalten beginnt zumeist im Jugendalter zwischen dem 12. und 14. Lebensjahr. Selbstverletzung ist grundsätzlich ein ernst zu nehmendes Symptom und Warnsignal, das häufig begleitend zu anderen Störungsbildern auftritt. Dabei sind die Hintergründe, warum Jugendliche sich selbst verletzen, ganz verschieden, ebenso wie die Formen der Autoaggression. „Oft wird Selbstverletzung als Methode zur Emotionsregulation eingesetzt, um unerwünschte Gefühls- und Spannungszustände zu unterbrechen und dadurch Erleichterung zu erfahren. In anderen Fällen dient die körperliche Verletzung dazu, ein so genanntes dissoziatives Erleben zu beenden. Hierbei leiden Betroffene unter anderem unter dem Verlust ihres Persönlichkeitsgefühls, sie verspüren eine emotionale und auch körperliche Taubheit. Durch das Schmerzerleben fällt es Ihnen leichter, solche Entfremdungsgefühle abzubauen und sich wieder zu verankern“, berichtet Dr. med. Ulrich Müller-Knapp von der Schweizerischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (SGKJPP) mit Sitz in Bern. „Zuweilen wird das Verhalten auch eingesetzt, um nach einem subjektiv erlebten Versagen Wut gegen sich selbst auszudrücken und sich selbst abzuwerten. Das selbstverletzende Verhalten erfüllt damit eine Art Selbstbestrafung.“ In manchen Fällen dient die Selbstverletzung auch dazu, den Impuls, sich das Leben zu nehmen, zu ersetzen oder dazu einen Kompromiss zu schaffen. Selbstverletzendes Verhalten dient also recht unterschiedlichen Funktionen und es gilt, die individuellen Hintergründe zu erfassen.
Selbstverletzung kann schnell zu suchtartigem Verhalten werden
Selbstverletzung ist kein eigenständiges Krankheitsbild sondern tritt als Symptom einer psychischen Störung oder Erkrankung oder auch als isolierte Symptomatik auf. Neben Erkrankungen wie Depressionen, Ess-, Zwangs- oder Angststörungen können unter anderem mangelndes Selbstwertgefühl, die Unfähigkeit, Gefühle auszudrücken und schwach ausgeprägte Selbstregulierungskräfte ursächlich sein. Besonders häufig kommt es im Rahmen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung zu Selbstverletzungen. Besonders problematisch ist, dass die Jugendlichen bald in eine Art Teufelskreis verfallen und die selbstschädigenden Verhaltensweisen wiederholt vornehmen. „In emotionsgeladenen Situationen oder auch bei negativen Gefühlszuständen baut sich ein psychischer Druck auf, wieder Kontrolle über die eigenen Gefühle zu erlangen. Durch das selbstverletzende Verhalten verschwindet dieser Druck – wenn auch nur kurzfristig“, erläutert der Experte. „Wenn Betroffene nach dem Akt eine Erleichterung verspüren und den Eindruck haben, dass es ihnen in der jeweiligen Situation hilft, kann sich schnell ein suchtartiges Verhalten einstellen.“ Eltern sollten sich bei entsprechenden Auffälligkeiten an einen Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeuten wenden und sich zum weiteren Vorgehen beraten lassen.
Behandlung durch Verhaltenstherapie möglich
Die Therapie wird abhängig von der zugrundeliegenden individuellen Problematik gestaltet, wobei verhaltenstherapeutische Maßnahmen - wie die Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) - den größten Stellenwert haben. „Ziel der Behandlung ist unter anderem, lebensbedrohliches Verhalten sowie Verhaltensweisen, welche die Lebensqualität negativ beeinflussen, abzubauen“, erklärt Dr. Müller-Knapp. „Wichtig ist es, die jungen Menschen dabei zu unterstützen, ihre Verhaltensfertigkeiten auszubauen und beispielsweise konstruktivere Bewältigungsstrategien auf belastende Situationen zu entwickeln. Hierfür sind auch Gruppensitzungen hilfreich, in denen unter anderem Achtsamkeit, Emotionsregulierung, zwischenmenschliche Fertigkeiten sowie auch eine gesunde Stresstoleranz erarbeitet werden.“ Fehlt den Betroffenen die Motivation für eine Therapie, kann diese zunächst erarbeitet werden.
Quelle:
P. Plener, R. Brunner, F.Resch, J. Fegert, G. Libal, Selbstverletzendes Verhalten im Jugendalter, In: Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 38 (2), 2010, 77-89
DOI 10.1024/1422-4917/a000015