Ursachen von Bulimia nervosa (Ess-Brechsucht)
Es ist davon auszugehen, dass die Entwicklung einer Essstörung durch mehrere Faktoren verursacht wird, wobei soziokulturelle, entwicklungspsychologische und familiäre Faktoren sowie genetische und neurobiologische Mechanismen eine Rolle spielen können. Insofern bilden Essstörungen keine einheitliche Krankheitsgruppe hinsichtlich ihrer Entstehung, sondern spalten sich - je nach den zugrundeliegenden Faktoren - in unterschiedliche Untergruppen auf. Familienstudien zeigen, dass Angehörige essgestörter Patienten im Vergleich zu gesunden Familienmitgliedern häufiger ebenfalls an einer Essstörung erkranken, wobei auch eine familiäre Häufung von Zwangsstörungen und depressiven Erkrankungen gefunden wurde. In Familien mit bulimischen Patienten wird außerdem häufiger Substanzabhängigkeit beobachtet.
Generell scheinen Selbstwertprobleme verbunden mit depressiven Symptomen und Probleme in der Regulation von Affekten und Impulsen (oft verbunden mit weiterem selbstschädigendem Verhalten) bei Bulimie einen besonderen Stellenwert einzunehmen. Zwar kann Erbrechen nach einer Essattacke kurzfristig mit einem Gefühl der Entlastung einhergehen, die Wahrnehmung des eigenen Kontrollverlustes (den Essanfällen nachgegeben zu haben) führt allerdings zu ausgeprägten Scham- und Schuldgefühlen, welche die bereits zuvor bestehende Selbstwertkrise weiter verstärken.
Das Auftreten von Essstörungen in der Pubertät scheint häufig mit zwei Temperamentsfaktoren zusammenzuhängen: Negativer Affekt (depressive Symptome) und eine hohe Persistenz (ausgeprägte Zähigkeit bzw. großes Durchhaltevermögen). Im Vergleich zu Magersüchtigen erscheinen bulimische Patienten allerdings weniger zäh, energetisch und kontrolliert sowie frustrationsintoleranter, zudem sexuell aktiver und extrovertierter. Gemischte – zugleich bulimische und anorektische – Essstörungstypen zeigen Persönlichkeitsmerkmale, die eher bulimischen Patienten ähneln, und weisen gleichzeitig den bei anorektischen Patienten häufiger auftretenden Perfektionismus auf.
Für den Einfluss soziokultureller Einflüsse gibt es einige Hinweise: So treten Essstörungen in der westlichen Welt (auch bei Einwanderern) viel häufiger auf als in anderen Kulturkreisen – dabei besonders häufig in der Mittel- und Oberschicht sowie in bestimmten Risikogruppen wie Hochleistungssportler und Models.
Während gesunde, normalgewichtige, junge Frauen einen Körperfettanteil von 22-25 Prozent aufweisen, sollte es gemäß dem geläufigen, westlichen Schönheitsideal nur 10-15 Prozent betragen. Dementsprechend erfüllen viele der sogenannten Supermodels Gewichtskriterien, die denen einer Magersucht nahekommen. Dem Druck dieses Schönheitsideals, den auch viele Massenmedien (z.B. Fernsehen, Kino und Modezeitschriften) transportieren, scheinen Mädchen und Frauen häufiger zu unterliegen als ihre männlichen Altersgenossen, was erklären könnte, warum sie häufiger an einer Essstörung erkranken.
Ein bis zwei Drittel aller Teenager haben schon einmal eine Diät gemacht. Von diesen erkranken 1 Prozent an einer Magersucht, 2 Prozent an einer Bulimie und weitere 10 Prozent an einer partiellen Essstörung. Dabei scheinen Mädchen, die über längere Zeit sehr strenge Diäten durchführen und zudem depressive Verstimmungen, Angstsymptome und ein geringes Selbstwertgefühl aufweisen, besonders gefährdet zu sein. Im Gegensatz zu Kindern, bei denen abhängig-vermeidendes Verhalten (noch) toleriert wird, erwartet die Gesellschaft von Jugendlichen zunehmende Selbstbehauptung und Autonomie. Es ist gut möglich, dass junge Frauen mit geringem Selbstwertgefühl und ängstlichen Verhaltensweisen auf diese Anforderungen mit einer gesteigerten Anpassungsbereitschaft reagieren und daher versuchen, gesellschaftliche Normen (wie z.B. das Schlankheitsideal) überoptimal zu erfüllen.
Warum einige Patienten den ausschließlich restriktiven anorektischen Essstörungstypus beibehalten, der durch eingeschränkte Nahrungszufuhr und verstärkte körperliche Aktivität gekennzeichnet ist, während andere Patienten bulimische Essattacken entwickeln und teilweise zusätzliche Methoden zur Gewichtsabnahme (Erbrechen, Abführmittel) ergreifen, ist nicht bekannt. Man kann aber eine altersabhängige Häufung der Krankheitsmerkmale erkennen mit der folgenden Tendenz: Fasten bei 10- bis 16-Jährigen, bulimische Attacken bei 14- bis 18-Jährigen, Erbrechen und Missbrauch von Abführmitteln bei den über 16-Jährigen. Die anfänglich konsequent durchgeführte Dauerdiät scheint im zeitlichen Verlauf der Erkrankung immer häufiger von Essattacken durchbrochen zu werden, zumal der durch das längere Hungern verursachte Unterzucker zu großem Heißhunger führt. Erbrechen und Missbrauch von Abführmitteln wird bei der Mehrzahl der Patienten als kompensatorisches Verhalten angesehen, um einer Gewichtzunahme nach Heißhungerattacken entgegenzuwirken.
Es ist auch noch nicht geklärt, ob Angsterkrankungen, die ja oft zusätzlich mit der Essstörung einhergehen (wie soziale Phobien, Panik- oder Zwangsstörungen), Ursache oder Folge der Essstörung sind. Allerdings wird vermutet, dass Diäten und Hungern insbesondere während entscheidender Entwicklungsphasen wie der Pubertät zu einer Störung des Neurotransmittersystems führen - insbesondere des Neurotransmitters Serotonin, der für die Hemmung und Kontrolle von Verhaltensweisen zuständig ist. Dies kann Komplikationen verursachen, die sich in Form von depressiven Verstimmungen äußern und letztendlich eine altersentsprechende Entwicklung erschweren können. Kommen dann noch weitere Probleme (wie z.B. Konflikte mit oder Überbehütung durch die Eltern, fehlende Anerkennung durch Altersgenossen oder sozialer Rückzug) hinzu, kann sich daraus unter Umständen ein Teufelskreis entwickeln, infolgedessen sich eine Essstörung manifestieren und chronisch werden kann. Eine durch Hungerperioden bedingte Störung der Regulationskreisläufe im Bereich der Neuroendokrinologie und des Neurotransmitterstoffwechsels nimmt ebenfalls Einfluß auf die Affektlage und dürfte zur Aufrechterhaltung der Essstörung entscheidend beitragen.