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Herausgegeben von den Berufsverbänden für Psychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik, Nervenheilkunde und Neurologie aus Deutschland.

Ursachen, Anzeichen Interventions- und Therapiemöglichkeiten bei Schulschwänzen

Schulschwänzen hat im Gegensatz zu den bisher genannten Angststörungen (Schulangst und Schulphobie) nicht primär mit Angst zu tun. Vielmehr handelt es sich hierbei um ein Symptom eines problematischen Sozialverhaltens, welches in verschiedenen Ursachen begründet ist und sich auch auf den schulischen Bereich auswirkt. Eltern wissen in der Regel nichts davon, wenn ihre Kinder den Unterricht schwänzen (Knollmann et al., 2011).

Anfänglich mag hinter dem Motiv, einzelne Schulstunden zu schwänzen, Abenteuerlust stecken, oder das Bedürfnis sich in Mutproben zu beweisen. Gelegentliches Schwänzen kommt auch unter sehr begabten Schülern vor, die sich im Unterricht unterfordert fühlen und langweilen. Durch das Fernbleiben vom Unterricht protestieren sie gegen ihr unbefriedigendes Schülerdasein.

Grundsätzlich liegt die Motivation zum Schulschwänzen aber in der Vermeidung von Unlust begründet. Schließlich ist das Lernen in der Schule keine leichte Aufgabe, sondern mit einigem Energieaufwand und Mühsal verbunden, teilweise auch mit Frustrationen. Die Vermeidung dieser Frustrationen führt zu einer kurzfristigen Entlastung durch das Fernbleiben von der Schule. Der langfristige Lohn, der dazu motivieren könnte trotz Unlust zur Schule zu gehen, scheint für diese Schüler oft in zu weiter Ferne zu liegen.

Manche Heranwachsenden wollen oder können den Sinn vieler Lehrinhalte in der Schule nicht einsehen. Ihnen erscheint Schule sinnlos und nicht lebensnah. Sie „pfeifen auf die Schule“, wollen ihre Freiheit genießen, herumstreunen, das tun, was sie im Moment bewegt und ihnen gegenwärtig viel wichtiger erscheint. So können sich aus gelegentlichen Schwänzern notorische Schulverweigerer entwickeln, die sich aus Überzeugung gegen Leistung und Schule entschieden haben. Schulschwänzen gilt als ein Kernsymptom von Störungen des Sozialverhaltens, da die Kinder und Jugendlichen mit ihrem Verhalten sehr deutlich zum Ausdruck bringen, dass sie nicht bereit sind, sich an gesellschaftliche Normen und Konventionen zu halten.

Häufigkeit von Schulschwänzen

Statistische Untersuchungen über den Umfang des Schulschwänzens in Deutschland liegen nur eingeschränkt vor. Ungefähre, durchschnittliche Angaben gibt es bisher nur für einzelne Bundesländer, nicht aber für Gesamtdeutschland. Generell kann man aber von einer Zunahme der Zahlen ausgehen. Es zeichnen sich laut einem Bericht des Polizeivollzugsdienstes an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege in Berlin folgende Tendenzen ab: Schätzungsweise 1 bis 2% der Schüler gehören zum „harten Kern“ unter den Schwänzern: Sie haben sich stark von der Schule distanziert und schwänzen „intensiv“. Das sind in Deutschland etwa 100.000-200.000 Schüler.

Allein in Berlin sollen rund 8000 von 360.000 Schülern überhaupt nicht mehr zur Schule gehen und 3000 schwänzen den Unterricht so gut wie ständig. Geschwänzt wird vor allem an den Haupt- und Sonderschulen, gefolgt von den Grundschulen. Achtklässler schwänzen offenbar am häufigsten.

30% der Acht- bis Zehntklässler in Freiburg schwänzen sporadisch und 8% regelmäßig. Auch in Brandenburg ist das Schwänzen einzelner Stunden unter Schülern der 9. und 10. Klassen weit verbreitet: Ungefähr 50% tun dies. 25% schwänzen bisweilen auch ganze Schultage.

Darüber hinaus zeichnet sich in Deutschland ein Nord-Süd-Gefälle in den Häufigkeiten von Schwänzern ab: In Städten wie Kiel, Hamburg oder Hannover fehlen über 10% der Hauptschüler unentschuldigt; in Stuttgart 7% und in München 6%.

Die Daten entstammen größtenteils einem Bericht zum Thema „Schuleschwänzen“ (2004), der im Rahmen eines Studienprojekts der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin (Fachbereich Polizeivollzugsdienst) erstellt wurde

Anzeichen für Schulschwänzen

Schulschwänzende Kinder und Jugendliche haben eine generelle Schulunlust, ihre Schulleistungen sind meistens schlecht. Sie haben in der Regel keine Angst vor der Schule und nur selten körperliche Beschwerden. Sie fallen durch aggressive und unsoziale Verhaltensweisen auf, halten sich nicht an Regeln und Vorgaben und sind oft aufsässig, ungehorsam, oppositionell und trotzig. Oft verbünden sie sich mit anderen Gleichgesinnten, die ebenfalls durch Schulschwänzen und die genannten Verhaltensweisen auffallen.

Ursachen für Schulschwänzen

Die Ursachen und Begleitumstände für das Schulschwänzen sind unterschiedlich (Lehmkuhl und Lehmkuhl, 2004; Knollmann et al., 2011). Häufig liegt eine Störung des Sozialverhaltens im eigentlichen Sinne vor. Schulschwänzen kann aber auch ein Ausdruck für ein problematisches Sozialverhalten bei vorbestehender Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) sein. Teilweise fehlen Schulschwänzern in der Schule auch dadurch Erfolgserlebnisse, dass sie an einer bislang unerkannten Teilleistungsstörung, z.B. einer Lese-Rechtschreibschwäche, litten. Sozial auffälliges Verhalten mit Schulschwänzen resultiert unter Umständen auch aus Konflikten mit Gleichaltrigen, aber auch in Situationen, in denen der Schüler durch innerfamiliäre Konflikte oder durch das Beziehungs- und Erziehungsverhalten seiner Bezugspersonen belastet ist. So kann es in der Familie der Betroffenen Probleme durch Streitereien, Gewaltanwendung oder sexuellem Missbrauch kommen. Arbeitslosigkeit, psychische Erkrankungen von Familienangehörigen, wie zum Beispiel eine Alkoholabhängigkeit, Geldnöte und sehr schlechte Wohnbedingungen können zum schulschwänzenden Verhalten beitragen. Fehlende Zukunftsperspektiven und Berufschancen von Eltern und Jugendlichen tragen ihren Teil zur schwierigen Situation bei. So ist zum Beispiel bekannt, dass es z.B. arbeitslosen Menschen extrem schwer fällt eine adäquate Tagesstruktur aufrecht zu erhalten. Dies wiederum kann dazu führen, dass auch Kinder und Jugendliche, die am Modell ihrer Eltern lernen, Probleme haben einen Stundenplan adäquat einzuhalten und die schulischen Anforderungen gut zu bewältigen. Aufgrund eigener Probleme oder fehlender Ressourcen fällt es den Eltern sehr schwer, ihre Kinder in Hinblick auf schulische Belange oder sonstige Sorgen zu unterstützten und eine ausreichende elterliche Kontrolle aufrecht zu erhalten. Insofern setzt sich der Ursachenkomplex „Schulschwänzen“ oft aus einer Kombination von Problemen mit Gleichaltrigen, fehlenden erzieherischen und sonstigen Ressourcen und psychischen Erkrankungen zusammen.

Insbesondere notorische Schwänzer laufen Gefahr weder zur Schule zu gehen, noch eine Arbeit zu finden, wodurch ihr soziales Netzwerk und damit die Möglichkeiten Unterstützung zu erhalten eingeschränkt sind. Es besteht ein hohes Risiko für Obdachlosigkeit, Straffälligkeit und die Entwicklung einer Abhängigkeitserkrankung auch von illegalen Drogen.

Maßnahmen gegen Schulschwänzen

Ein erster Schritt vor der Therapie ist eine umfassende diagnostische Abklärung der zum Schulschwänzen führenden individuellen, familiären oder psychischen Probleme. Was aber können Eltern von Schulschwänzern tun, um das Problem einzudämmen? Eine Möglichkeit besteht darin, das eigene Erziehungsverhalten weiter zu verbessern: Mehr Zeit und Zuneigung für Kinder und Jugendliche bei gleichzeitigem Setzen von klaren Grenzen und Regeln. Im Gegensatz dazu ist ein völliges Gewährenlassen (Laisser-faire) und Gleichgültigkeit als genauso schädlich einzuschätzen, wie das Druckausüben als alleinige Erziehungsmaßnahme.

Besonders förderlich sind die folgende Maßnahmen, die den Kindern und Jugendlichen Orientierung geben können:

  • Belohnen von schulischen Erfolgen und Besprechung von Verbesserungen bei schulischen Misserfolgen
     
  • Bei schulischen Konflikten Vermeidung vorschneller Schuldzuweisungen an die Schule oder Lehrer
     
  • Aufstellen und konsequente Umsetzung von transparenten Regeln und Grenzen
     
  • Positive und liebevolle Zuwendung und Zuneigung, z.B. durch Lob ein Einhaltung von Regeln oder Erfolgserlebnissen

Jeder dieser Erziehungsstile führt zu gegenseitigem Respekt und Vertrauen zwischen Eltern und Kindern. Es kommt zur Verbesserung der elterlichen Autorität, Eltern und Kinder wenden sich einander zu. Elterliches Interesse, emotionale und praktische Unterstützung, Grenzsetzungen und -einhaltung sowie ein guter Familienzusammenhalt hängen unmittelbar mit Schulzufriedenheit, Schulerfolg und Schulanwesenheit zusammen.

In Hinblick auf beginnendes Schulschwänzen ist es wichtig, so früh wie möglich einzugreifen. Schon wenige unentdeckte oder seitens der Schule und Eltern nachlässig verfolgte „geschwänzte“ Schultage können den Wiedereinstieg der „abtrünnigen“ Schüler massiv erschweren. Deshalb sollte auch die Schule möglichst schnell reagieren: Die Lehrkräfte müssen klare Regeln und Konsequenzen mit den betreffenden Schülern vereinbaren, außerdem Kontakte zu ihren Eltern knüpfen und regelmäßige Gespräche mit ihnen führen. Ggf. muss ein Schulpsychologe eingeschaltet werden. Grundsätzlich sollten Erwachsene den Schülern vermitteln, dass sie diese in ihrer Person akzeptieren, auch wenn sie einzelne ihrer Verhaltensweisen kritisieren.

Falls das alles nichts hilft, muss Anzeige  bei der Polizei erstattet werden. Unentschuldigtes Fernbleiben vom Unterricht (dazu gehört auch ein eigenmächtiges Verlängern der Ferien durch die Eltern) ist eine Verletzung der Schulpflicht und damit eine Ordnungswidrigkeit, die je nach Bundesland mit bestimmten Geldstrafen (pauschal oder in Tagessätzen) geahndet werden kann. Besonders wirksam sind Geldstrafen, wenn die betreffenden Schüler selbst für sie aufkommen müssen. Sind sie noch nicht volljährig, trifft es die Eltern. Falls nötig, lässt sich auch die Jugendhilfe einbinden. Andere effektive Maßnahmen bestehen darin, den Schülern ihre Zufriedenheit beim Schwänzen zu verderben durch beispielsweise nachfragende Telefonate und unvermittelte Hausbesuche, Zusenden von Arbeitsaufträgen während angeblicher Krankheit. Auch ein Abholdienst über Schülerpatenschaften lässt sich einrichten u.v.a..

Behandlung von Schulschwänzen

Für Eltern besteht die Möglichkeit, sich vom Schulpsychologischen Dienst der Staatlichen Schulämter ihrer Stadt oder bei einer Erziehungs-Beratungsstelle von städtischen oder kirchlichen Trägern fachlichen Rat zu holen. Diese Arten der Beratung sind kostenlos und die Mitarbeiter unterliegen der Schweigepflicht – auch der Schule gegenüber. Oder sie wenden sich direkt an einen niedergelassenen Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie.

Es gibt weitere Wege, notorischen Schulschwänzern eine Rückkehr in den Schulalltag und eine Zukunft ohne Kriminalität und Drogenabhängigkeit zu ermöglichen. In so genannten Schul- und Lernwerkstätten, die oft mit den örtlichen Jugendhilfen zusammenarbeiten, werden Jugendliche von Sozialpädagogen und Lehrern innerhalb eines Schuljahres allmählich wieder an den Schulalltag und das Lernen herangeführt, so dass sie schließlich in ihre normalen Schulen zurückkehren und einen Schulabschluss erreichen können.

Rückfallprävention

Neben einer erfolgreichen Therapie ist es wichtig, den Rückkehrprozess in die Schulsituation umsichtig zu planen, und zwar gemeinsam mit allen Beteiligten. Dabei bewährt sich ggf. auch ein Belohnungssystem. Insbesondere für heikle Situationen (zum Beispiel am ersten Schultag der Rückkehr, nach den ersten Wochenenden, nach Krankheitsphasen und nach den Ferien) sollten spezielle Maßnahmen entwickelt werden, um einen möglichen Rückfall zu verhindern.

Vorbeugung von Schulschwänzen

Als nachgewiesene „Schutzfaktoren“ für Schüler gelten:

  • Erwachsene, die ermutigen, auf schulische Erfolge Wert legen und unterstützen
     
  • Stabilität und Kontinuität in der Betreuung (mind.  eine verlässliche Bezugsperson)
     
  • Freunde, die sich für die Schule engagieren
     
  • Befriedigende, herausfordernde und konstruktive Freizeitinteressen
     
  • Sprach- und Lesekompetenz
     
  • Regelmäßige Anwesenheitskontrolle in der Schule

Eine Praxis, die sich in den Schulen gut bewährt hat, ist die regelmäßige Anwesenheitskontrolle der Schüler zum Unterrichtsbeginn. So können Unterrichtsversäumnisse festgehalten und die Erziehungsberechtigten umgehend am besten telefonisch benachrichtigt werden. Zusätzlich sollten Schulvermeider direkt auf ihr Fernbleiben angesprochen werden und ihnen die Gelegenheit gegeben werden ihre Gründe für das Fernbleiben darzulegen. Anstatt sich mit einer undifferenzierten „Ich hatte wie immer Bauchschmerzen“ oder „Ich habe halt null Bock“-Antwort zufrieden zu geben, müssen sich im Dialog beide Seiten bemühen, die tatsächlichen Hintergründe und Motive des Schülers gemeinsam herauszuarbeiten und die Motivation zum Schulbesuch wieder herzustellen.

Fachliche Unterstützung: Prof. Dr. med. Johannes Hebebrand, Essen und Dr. med. Volker Reissner, Essen (DGKJP)