Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen
Die Anfänge der Kinder- und Jugendpsychotherapie wurden im 20. Jahrhundert gemacht, Pioniere wie Anna Freud und Melanie Klein entwickelten eine auf das Kindesalter spezialisierte Form der Psychoanalyse. Die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendpsychotherapie erfolgte dann in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts durch Vertreter der Kindertherapie (Kinderanalyse, aber auch Behaviorismus) und der Pädiatrie, in dieser Zeit wurde auch der Kinderschutzgedanke wichtig. In den 1970er und 1980er – Jahren entwickelten sich eine Vielzahl von neuen Therapieschulen und Methoden, die auch die Kinder- und Jugendpsychotherapie beeinflussten. Zu denken ist hierbei an die personenzentrierte Spieltherapie und die Familien- bzw. Systemische Therapie. Seit Mitte der 1990er-Jahre sind im deutschen Sprachraum eine Vielzahl von psychologisch fundierten und evaluierten Psychotherapiemanualen für die Behandlung von Kindern, Jugendlichen und deren Familien erschienen. In den letzten 20 bis 30 Jahren wurde die Arbeit mit Eltern/ Bezugspersonen intensiviert, indem spezielle Elterntrainings entwickelt und auf deren Wirksamkeit hin überprüft wurden.
Unter Psychotherapie allgemein versteht man einen
- bewussten und geplanten interaktionellen Prozess
- zur Beeinflussung von Verhaltensstörungen und (emotionalen) Leidenszuständen
- die in einem Konsensus (möglichst zwischen Patient, Therapeut und Bezugsgruppe) für behandlungsbedürftig gehalten werden
- mit psychologischen Mitteln (Kommunikation, verbal und non-verbal)
- in Richtung auf ein definiertes, nach Möglichkeit gemeinsam erarbeitetes Ziel (Symptomminimalisierung und/ oder Strukturänderung der Persönlichkeit)
- mittels lehrbarerer Methoden und Techniken
- auf der Basis einer Theorie des normalen und pathologischen Verhaltens.(Definition nach Strotzka, 1975, S. 4)
Kinder- und Jugendpsychotherapie ist Bestandteil der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Zentrale Nachbardisziplinen sind Kinder- und Jugendpsychologie, Kinderheilkunde, Heil- und Sonderpädagogik und Kinderneurologie.
In der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie haben sich multikausale Erklärungskonzepte für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter durchgesetzt. Eine patientenorientierte, störungsspezifische, integrierte und multimodal ausgerichtete Therapie gehört inzwischen zum Grundprinzip einer kinder- und jugendpsychotherapeutischen und -psychiatrischen Behandlung. Unter multimodaler Therapie versteht man die Integration psychotherapeutischer, (heil-)pädagogischer, spezialtherapeutischer (Ergotherapie, Bewegungstherapie, Logopädie, Musiktherapie, Kunsttherapie, usw.) und pharmakologischer Behandlungsmethoden unter Einbeziehung des sozialen Umfeldes (z.B. Familie/ Bezugspersonen, Kindergarten/ Schule/ Ausbildung).
Der Therapiebegriff, der für die Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen kennzeichnend ist, lässt sich mit den Worten des Würzburger Kinder- und Jugendpsychiaters und -psychotherapeuten Andreas Warnke (2011) wie folgt definieren: „Psychotherapie ist ein didaktisches und organisatorisches Wirken in einer therapeutischen Beziehung, womit der Therapeut in Kooperation mit Mitarbeitern anderer relevanter Berufsgruppen dem Kind und dem Jugendlichen als Patient und seinen Angehörigen hilft, lösungsrelevante persönliche Verhältnisse, subjektive Befindlichkeiten, interaktionelle Vorgänge und situative Zusammenhänge zu klären, eigene Möglichkeiten und persönliche Begabungen zur Bewältigung einer definierten Problem- und Symptomkonstellation bzw. psychischen Erkrankung zu erkennen, neue Lösungswege zu entwickeln und Therapieerfolge im allgemeinen sozialen Umfeld zu stabilisieren und zu generalisieren. Da Psychotherapie auch auf hypothesengeleiteten Entscheidungen gründet und zu Veränderungen führt, beinhaltet die Behandlung zugleich fortlaufend eine Diagnostik“.
In der Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen müssen eine Reihe von Besonderheiten berücksichtigt werden:
- Entwicklungsorientierung: Bei der therapeutischen Beziehungsgestaltung, aber auch bei der Nutzung therapeutischer Interventionen müssen nicht nur das Störungsbild, sondern auch – und das ist ganz wesentlich – der Entwicklungsstand des Kindes/ des Jugendlichen berücksichtigt werden. Bei der Therapieplanung sind deshalb körperlich-funktionelle, kognitive und psychosoziale Voraussetzungen zu berücksichtigen. Häufiger kommen aktionale, praktische und spielerische und gestalterische Methoden und Techniken zum Einsatz.
- Kontextorientierung: Neben dem Individuum müssen wichtige Bezugssysteme wie Familie, Kindergarten, Schule oder Ausbildung in den diagnostischen Prozess, aber auch die therapeutischen Maßnahmen einbezogen werden. Das Temperament/ die Persönlichkeit des Kindes/ des Jugendlichen steht in einer wechselseitigen Interaktion mit dem sozialen Umfeld. Verhaltensprobleme oder psychische Symptome manifestieren sich meist im sozialen Umfeld, durch die Einbeziehung des Umfeldes werden Verhaltensänderungen oder Entwicklungsfortschritte ermöglicht. Dies ist besonders bei jüngeren Kindern entscheidend, da Kinder in materieller, rechtlicher und psychologischer Hinsicht von Bezugspersonen abhängig sind. Bei Jugendlichen können individuumszentrierte Ansätze wichtiger werden, da sie aufgrund ihrer Entwicklung unabhängiger von Bezugspersonen werden und autonomer sein wollen als Kinder.
- Therapiemotivation und -verantwortlichkeit: Kinder und oft auch Jugendliche kommen selten aus eigener Motivation in eine Psychotherapie. In den häufigsten Fällen sind die Bezugspersonen ausschlaggebend für die Aufnahme einer Psychotherapie. Dies hat für verschiedene Aspekte Relevanz: Teilweise muss bei den Kindern/ Jugendlichen zunächst eine Therapiemotivation aufgebaut werden, darüber hinaus ist es wichtig, bei der Festlegung von Therapiezielen und bei der Planung von Interventionen die Anliegen der verschiedenen Bezugssysteme zu berücksichtigen und einen Transfer der Interventionsstrategien in die verschiedenen sozialen Bereichen zu ermöglichen. Es handelt sich hierbei um komplexe Prozesse, da sich die Ziele und die Verantwortlichkeit der einzelnen für Veränderung relevanten Personen unterscheiden können.
- Therapiebeziehung: Die Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen gestaltet sich als Dreiecksverhältnis zwischen Therapeut, Patient und Bezugspersonen. Dies kann zu komplexen Dynamiken führen. Die Aufgabe des Therapeuten ist es, diese Dynamik im Blick zu behalten und sie funktional m Hinblick auf Veränderungen zu gestalten. Die Beziehung ist nicht nur durch das Rollenverhältnis, sondern auch durch das Generationsgefälle zwischen Patient und Therapeut bestimmt. Kinder und Jugendliche werden in Therapieentscheidungen je nach Entwicklungsstand einbezogen.
- Kommunikation und Reflexionsfähigkeit: Je nach Entwicklungsstand des Kindes/ des Jugendlichen kann die verbal/kognitive die Kommunikations- und Reflexionsfähigkeit eingeschränkt sein. Von daher kommen in der Kinder- und Jugendpsychotherapie häufig kreative Methoden (z.B. Spiel, Zeichnen) zum Einsatz. Mit Hilfe dieser Methoden sollen Inhalte veranschaulicht und verdeutlicht werden.
- Interdisziplinäre Zusammenarbeit: Alle Personen, deren Ziel/ Aufgabe es ist, ein Kind/ einen Jugendlichen in seiner Entwicklung zu fördern, sollten zusammenarbeiten, um die aus der Psychotherapie abgeleiteten Veränderungen im Alltag umzusetzen. Da es sich bei der Psychotherapie um eine zeitlich begrenzte Hilfe handelt, sollte in vielen Fällen eine Abstimmung mit anderen Bezugsgruppen erfolgen, die das Kind/ den Jugendlichen/ die Familie über einen längeren Zeitraum hinweg in seiner Entwicklung unterstützen können (z.B. Jugendhilfe, Gesundheitssysteme).