Das Bakteriengift Botulinumtoxin (BTX) – umgangssprachlich auch Botox genannt – ist den meisten Menschen als Mittel gegen Falten bekannt. Doch Botulinumtoxin kann noch mehr: Wird es etwa in die Stirn gespritzt, lindert es Depressionen. Auch bei Menschen mit Borderline-Erkrankung, die an extremen Stimmungsschwankungen leiden, dämpft es nachhaltig negative Emotionen. Das hat Prof. Dr. Tillmann Krüger, Oberarzt und Forschungsgruppenleiter an der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) schon vor Jahren nachgewiesen – gemeinsam mit seinem Kollegen Privatdozent (PD) Dr. Marc Axel Wollmer von der Asklepios Campus Hamburg der Semmelweis Universität. Jetzt haben die Psychiater herausgefunden, wo und wie BTX das Negativ-Programm im Gehirn beeinflusst. Mit Hilfe von Magnetresonanztomographie (MRT) haben sie die neuronalen Effekte bei Borderline-Patientinnen sichtbar gemacht (siehe Scientific Reports, online seit 20.8.2022). Das Ergebnis: Botulinumtoxin beeinflusst im Gehirn die sogenannte Amygdala oder auch Mandelkern genannte Region im Schläfenlappen, wo Ängste entstehen und verarbeitet werden.
Negative Stimmungen drücken sich im Gesicht in der sogenannten Glabellarregion aus, dem Bereich der unteren mittleren Stirn. Sind wir wütend oder angespannt, ziehen sich zwei verschiedene Muskelarten zusammen und lassen über der Nasenwurzel Zornes- oder Sorgenfalten entstehen. Wird Botulinumtoxin in die Glabellarregion gespritzt, lähmt es diese Muskeln zwischen den Augenbrauen. Weil Gesichtsmimik und psychisches Befinden eng verbunden sind, reduziert sich dadurch auch die Intensität der Emotionen. „Eine entspannte Stirn vermittelt sozusagen ein positiveres Gefühl“, erklärt Prof. Krüger. In der Wissenschaft wird diese Rückkoppelung als Facial-Feedback-Theorie diskutiert.
In einer früheren Meta-Analyse (siehe Science direct, online seit März 2021) hatten Prof. Krüger und sein Team bereits nachgewiesen, dass eine BTX-Injektion in die Glaballarregion einen positiven Einfluss auf Stimmung und Gemütserregung hat. Depressive Symptome verbessern sich dadurch deutlich. „Die Behandlung hat gleich mehrere Vorteile: Da die lähmende Wirkung drei oder mehr Monate anhält, muss auch nur in diesen zeitlichen Abständen eine Spritze gesetzt werden. „Die seltenen Injektionen sind zudem weniger kostspielig als manche anderen Therapieoptionen und haben eine sehr gute Verträglichkeit und Akzeptanz unter den Patienten“, erläutert Prof. Krüger.
Und das funktioniert bei Depressionen ebenso wie bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Etwa drei Prozent der Deutschen leiden an dieser Erkrankung, mehr als 62 Prozent der Betroffenen sind Frauen. Indem Botulinumtoxin die Feedbackschleife zwischen den Stirnmuskeln und dem Gehirn unterbricht, verändert es auch die emotionale Rückmeldung. Das konnten die Forschenden im Gehirn von Borderline-Patientinnen nachweisen, die mit einer Botulinumtoxin-Injektion in die Glabellarregion behandelt worden waren. Bereits vier Wochen später hatten die Patientinnen deutlich verringerte Symptome, was sich auch in den MRT-Bildern zeigte. „Wir konnten sehen, dass Botulinumtoxin das emotionale Dauerfeuer im Mandelkern drosselt, welche die hochgradige innere Anspannung der Betroffenen begleiten“, berichtet der Psychiater.
Eine Vergleichsgruppe, die mit Akupunktur behandelt wurde, zeigte zwar auch verbesserte klinische Symptome, nicht jedoch die neuronalen Effekte in der MRT-Untersuchung. Das Feedback zwischen Muskeln und Gehirn funktioniert aber nicht nur in der Glabellarregion. Das hat eine Datenbank-Studie ergeben, an der Prof. Krüger und sein Kollege Prof. Wollmer beteiligt waren (siehe Scientific Reports, online seit 21.12.2021). In Zusammenarbeit mit der University of California San Diego fanden sie heraus, dass Botulinumtoxin auch Angststörungen mildern kann, wenn es in die Kopfmuskeln, in die Muskeln der oberen und unteren Gliedmaßen sowie in die Nackenmuskeln gespritzt wird. Bislang gehört die BTX-Behandlung bei psychischen Erkrankungen allerdings nicht zu den Leistungen der Krankenkassen. Der Psychiater hofft, dass sich das ändert, wenn die Wirkweise noch besser erforscht ist.
Botulinumtoxin, umgangssprachlich Botox genannt, ist das stärkste bekannte Nervengift. Es wird von dem Bakterium Clostridium botulinum unter Luftabschluss gebildet und verursacht den sogenannten Botulismus. Die Vergiftungserscheinungen werden meist durch den Verzehr von schlecht konservierten Lebensmitteln hervorgerufen, in denen sich das Bakteriengift angesammelt hat. Dieses hemmt die Erregungsübertragung von Nervenzellen auf andere Zellen, insbesondere an den Verbindungsstellen zu Muskelzellen, wodurch eine Kontraktion des Muskels schwächer wird oder ganz ausfällt. Sind Herz- und Atemmuskulatur betroffen, können die Lähmungserscheinungen zum Tod führen. In sehr geringer Dosierung und fachgerecht angewendet, kann das Gift jedoch helfen – nicht nur gegen Falten. In der Neurologie wird Botulinumtoxin etwa zur Behandlung von Bewegungsstörungen (Dystonien) eingesetzt, bei denen unwillkürliche und abnorme Muskelbewegungen auftreten. Weitere Anwendungsgebiete sind der Lidkrampf (Blepharospasmus), der Schiefhals (Torticollis) sowie übermäßiges Schwitzen (Hyperhidrose).
Quelle: Medizinische Hochschule Hannover