Chronisch idiopathischer Schwindel wird, vor allem in Deutschland, häufig unter dem Begriff des phobischen Schwankschwindels beschrieben. Er ist durch einen Schwindel und das Gefühl einer Gleichgewichtsstörung charakterisiert. Typische vestibuläre Symptome wie eine eindeutig beschreibbare Drehbewegungsillusion der Umgebung oder eine objektivierbare Stand- und Gangstörung fehlen ebenso wie pathologische Befunde in der vestibulären Funktionsdiagnostik. Der Schwindel verstärkt sich häufig bei Kopf- und Körperbewegungen und kann dabei von kurz andauernden Bewegungsillusionen begleitet sein. Dies hat vor dem Hintergrund einer multisensorischen Entstehung von Schwindel zu folgendem Erklärungsversuch geführt: Schwindelsensationen bei diesen Patienten können auf Störungen der Abstimmung zwischen erwarteten und tatsächlich eingehenden sensorischen Informationen beruhen. Jede Bewegung seiner selbst, wie zum Beispiel das Umherschauen im Raum, führt zu selbst hervorgerufenen Veränderungen der sensorischen Eingänge. Werden diese Veränderungen vom Gehirn nicht richtig vorhergesagt, würden veränderte sensorische Eingänge als von außen hervorgerufen fehlinterpretiert. Damit könnten sie folglich zu Schwindel Anlass geben. „Mit unserer Studie konnten wir nun zeigen, dass es bei dieser Patientengruppe eben doch keinen Zusammenhang zwischen dem individuellen Schweregrad des Schwindels und einer Störung der Vorhersage von Eigenbewegung gibt, zumindest in Bezug auf langsame Augenbewegungen“, sagt Dr. Jörn Pomper vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) und der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikums Tübingen.
Gleichgewicht beruht auf der störungsfreien Verschmelzung von zahlreichen Informationen. Auch mit Hilfe von Augenbewegungen berechnet das Gehirn, wie wir selbst in Bezug auf unsere Umgebung gehen, sitzen, stehen oder liegen. Sowohl Sakkaden als auch langsame Augenfolgebewegungen führen zu einer Verschiebung des visuellen Hintergrundes auf der Retina. Interpretiert das Gehirn die durch Augenbewegungen ausgelöste Bildbewegung als Bewegung der Umwelt, könnten Desorientierung und Schwindel die Folge sein. Im Falle von langsamen Augenfolgebewegungen wird beim Gesunden die retinale Afferenz durch ein internes Referenzsignal, auch unter dem Namen Efferenzkopie bekannt, korrigiert. Es „informiert“ darüber, wie viel die Augenbewegung zur Bildverschiebung beigetragen hat. Ein fehlerhaftes Referenzsignal hingegen löst eine illusionäre Bewegung der Umwelt aus. In der Tübinger Studie sagten sowohl die Patienten als auch die gesunden Probanden retinale Bildverschiebungen, induziert durch langsame Augenfolgebewegungen, in gleicher Weise voraus. Zudem zeigten sie die gleiche Anpassung ihrer Vorhersagen, entsprechend den veränderten Anforderungen des visuellen Kontexts. Eine teilweise Entkoppelung der Efferenzkopie konnte für langsame Augenfolgebewegungen somit nicht nachgewiesen werden.
Originaltitel der Publikation
Does chronic idiopathic dizziness reflect an impairment of sensory predictions of self-motion? Front. Neurol., 08 November 2013; doi: 10.3389/fneur.2013.00181
www.frontiersin.org/Journal/10.3389/fneur.2013.00181/full
Quelle: Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH)