Forschende der Universität Bonn haben die Funktion eines Enzyms namens SLK (Abkürzung von Ste20-like kinase) für die Entwicklung der Nervenzellen im Gehirn aufgeklärt (siehe Journal of Neuroscience, online am 29.9.2021). Fehlt es, verzweigen sich die Fortsätze der Neuronen weniger stark. Außerdem lässt sich die Aktivität der Zellen dann schlechter hemmen. Dazu passt, dass in erkranktem Gehirngewebe von Epilepsie-Patienten weniger SLK vorkommt. Bei epileptischen Anfällen kommt es zu einer Übererregung von Nervenzell-Verbünden. Eventuell können die Befunde dabei helfen, die Therapie der Erkrankung zu verbessern.
SLK zählt zur großen Gruppe der Kinasen. Diese Enzyme sind ausgesprochen wichtig: Sie hängen Phosphatgruppen (das sind kleine Molekülreste mit einem Phosphor-Atom im Zentrum) an Proteine und verändern so deren Aktivität, zum Bespiel die Aktivität von Enzymen, die eine wichtige Rolle im Stoffwechsel spielen, oder von Transkriptionsfaktoren, die bestimmen, welche Gene abgelesen werden. Kinasen sind an der Regulation fast aller Lebensprozesse in Tieren beteiligt.
Von der Kinase SLK war bereits bekannt, dass sie eine wichtige Rolle bei der Embryonalentwicklung spielt: Sie beeinflusst unter anderem das Wachstum von Zellen und ihre Wanderung im Körper - Prozesse, die auch für die Reifung der Nervenzellen (Neuronen) essentiell sind. „Wir haben daher untersucht, welche Funktion SLK in Nervenzellen übernimmt“, erklärt Prof. Dr. Albert Becker vom Institut für Neuropathologie der Universität Bonn.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hemmten in Neuronen von Mäusen die Produktion des SLK-Proteins. „Zugleich veränderte sich das Aussehen der Nervenzellen“, berichtet Anne Quatraccioni, die am Institut für Neuropathologie in der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Susanne Schoch McGovern promoviert: „Die Dendriten - das sind die Ausläufer, die Signale von anderen Neuronen empfangen und zum Zellkörper leiten - verzweigten sich weniger stark.“
Die Dendriten ähneln einer Art Baum, der mit winzigen Kontaktstellen übersät ist, den Synapsen. Dort docken Ausläufer anderer Nervenzellen an und geben elektrische Impulse an den Baum weiter. Die beobachtete „Ausdünnung“ betraf nicht die dicken Hauptäste, sondern ausschließlich die kleinsten Verästelungen. Die Synapsen an diesen kleinen Zweigen nennt man exzitatorisch: Signale, die dort empfangen werden, wirken erregend. Sie erhöhen also die Wahrscheinlichkeit, dass die Nervenzelle ihrerseits ein elektrisches Signal erzeugt - dass sie „feuert“.
Wenn es weniger Seitenzweige gibt, konzentrieren sich die Synapsen auf eine geringere Fläche – dadurch würde ihre Dichte zunehmen. Normalerweise führt das dazu, dass ihr Einfluss größer wird; die Nervenzelle lässt sich also (da die Synapsen exzitatorisch wirken) leichter erregen. „Erstaunlicherweise konnten wir aber keine erhöhte Dichte der exzitatorischen Synapsen feststellen“, betont Quatraccioni. „Dennoch waren die betroffenen Neuronen erregbarer. Das musste jedoch andere Gründe haben.“
Die Ursache ist nicht in den feinen Verästelungen zu finden, sondern in den dicken Hauptzweigen. Auch dort sitzen zahlreiche Synapsen, allerdings ein anderer Typ: Sie wirken inhibitorisch, also hemmend. Jedes Signal, das bei diesen Synapsen eingeht, verhindert, dass die Nervenzelle feuert. „Die Mäuse bildeten zunächst eine normale Menge dieser inhibitorischen Synapsen“, erklärt Quatraccioni. „Nach einigen Lebenstagen begann ihre Dichte jedoch abzunehmen. Dieser Verlust schritt immer weiter voran.“
SLK scheint also wichtig zu sein, um die normale Menge inhibitorischer Synapsen aufrechtzuerhalten. Ohne die Kinase lassen sich die betroffenen Nervenzellen mit der Zeit immer schlechter hemmen. Dazu passt, dass die Forschenden in Hirngewebe von Epilepsiekranken einen SLK-Mangel in Nervenzellen nachweisen konnten. Bei epileptischen Anfällen kommt es zu einer Übererregung ganzer Hirnareale - die Neuronen feuern also zu leicht.
Die Ergebnisse könnten erklären, warum bei manchen Erkrankten die Wirkung der Medikamente mit der Zeit nachlässt. „Vielleicht rührt dieser Effekt nicht von einer Resistenz gegen die Wirkstoffe, sondern von dem fortschreitenden Verlust der hemmenden Synapsen“, vermutet Prof. Dr. Susanne Schoch McGovern. Die Ergebnisse liefern also neue Einblicke in die Krankheitsentstehung.
Sie könnten zudem auch therapeutische Relevanz haben: „Oft versuchen wir, die Übererregung der Nervenzellen durch Medikamente zu verhindern, die die inhibitorischen Synapsen stimulieren“, erklärt Schoch McGovern. „Bei einem SLK-Mangel könnte das die falsche Strategie sein: Dort gibt es irgendwann nur noch so wenige inhibitorische Synapsen, dass das nicht mehr funktioniert. Erfolgversprechender ist es bei diesen Patienten vermutlich, auf der exzitatorischen Seite einzugreifen, also die erregenden Synapsen zu hemmen.“
Quelle: Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn