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Neue Therapieansätze für Multiple Sklerose dank intensiver Forschung

© ktsdesign123_Fotolia.com

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Anlässlich des Welt-MS-Tags am 30. Mai weist die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) auf die besondere Dynamik der neurologischen Forschung auf dem Gebiet der Multiple Sklerose (MS) hin.

In der MS-Therapie werden derzeit große Fortschritte erzielt, weil die Pathomechanismen der Erkrankung immer besser verstanden werden. Hoffnung auf innovative Therapieoptionen machen aktuell besonders zwei Studien aus Deutschland. Eine identifizierte axonale Kaliumkanäle (siehe Journal of Clinical Investigation, online seit 3.4.2023) und die zweite die Lungen-Hirn-Achse (siehe Nature, online seit 23.2.2022) als neue Therapietargets.

In Deutschland erkranken jährlich über 10.000 Menschen an Multipler Sklerose (MS); es sind insgesamt weit über 250.000 Betroffene. MS ist eine meist schubförmig verlaufende chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des ZNS. Die Symptomatik entsteht durch eine Störung der elektrischen Signalweiterleitung der Nervenfasern (Neurone) aufgrund eines fortschreitenden Untergangs der von Oligodendrozyten gebildeten neuronalen Isolierschicht (Myelinscheiden). Damit es im Verlauf durch die Demyelinisierung der Nervenfasern nicht zu bleibenden Behinderungen kommt, ist eine antientzündliche Dauertherapie notwendig. Moderne zielgerichtete Immuntherapien, die die Schubfrequenz deutlich reduzieren können, wurden durch die Erforschung von Pathomechanismen und neuen Erkenntnissen zur Diagnostik möglich. Dennoch stellen auch die modernen immunmodulierenden Therapien noch keine kausale Therapie dar.

Ein ganz neues Licht wirft nun die Arbeit des Forschungsteams um Prof. Dr. Lucas Schirmer (Universitätsmedizin Mannheim), Prof. Dr. Dr. Sven Meuth (Universitätsklinikum Düsseldorf) und Prof. Dr. David Rowitch (University of Cambridge) auf die pathophysiologischen Abläufe bei MS, da sie zeigen konnten, dass bestimmte Kaliumkanäle der Nervenbahnen offensichtlich eine bedeutsame Funktionsstörung aufweisen (siehe Journal of Clinical Investigation, online seit 3.4.2023). Sie gingen der experimentell generierten Hypothese nach, dass eine chronische neuronale Übererregbarkeit eine grundlegende Rolle bei der MS-Pathogenese spielt. Diese chronische Übererregbarkeit führt im Verlauf zu einer metabolischen Erschöpfung der betroffenen Neuronen, so dass sie zugrunde gehen. Die erhöhte Erregbarkeit ist wahrscheinlich Folge verschiedener Faktoren, die die Schwelle für die Erzeugung von Aktionspotenzialen im Zusammenhang mit der chronisch-entzündlichen Demyelinisierung senken. Für die schnelle Erregungsweiterleitung sind die Ranvier’schen Schnürringe entscheidend (die Stelle, wo die von Oligozyten gebildete Myelinscheiden aufeinandertreffen). Die Erregbarkeit der Neuronen an und um die Ranvier’schen Schnürringe wird durch Kaliumkanäle reguliert. Detaillierte Untersuchungen zeigten, dass axonale Kaliumkanäle Kaliumionen überwiegend von innen nach außen durch die Zellmembran leiten (auswärts-gleichrichtende Kv7-Kanäle) und oligodendrogliale Kaliumkanäle überwiegend von extra- nach intrazellulär (einwärts-gleichrichtende Kir4.1-Kanäle). Die Analyse der räumlichen und funktionellen Beziehung zwischen Kv7- und Kir4.1-Kanälen sowie der funktionellen und transkriptionellen Signaturen von kortikalen und retinalen Projektionsneuronen im gesunden Zustand sowie unter entzündlich-demyelinisierenden Bedingungen zeigte, dass die Regulation beider Kanäle bei MS und bei der experimentellen autoimmunen Enzephalomyelitis gestört ist. Die Kir4.1-Kanäle waren dauerhaft herabreguliert und Untereinheiten des Kv7-Kanals waren während der entzündlichen Demyelinisierung vorübergehend hochreguliert. Einen positiven Effekt zeigte die pharmakologische Öffnung des Kv7-Kanals mit Retigabin – es reduzierte die Übererregbarkeit humaner und muriner Neurone und verbesserte im Tiermodell die klinischen Symptome. „Die Normalisierung des Ionenungleichgewichtes stellt einen interessanten innovativen Therapieansatz dar“, erläutert Prof. Schirmer. „Mit der Möglichkeit, direkt an den funktionsgestörten Kaliumkanälen als neues Therapietarget anzugreifen, kann möglicherweise eine erste kausale MS-Therapie entwickelt werden“.

Darüber hinaus wurden im vergangenen Jahr unter anderem auch neue Erkenntnisse im Bereich Mikrobiom und MS veröffentlicht. Über die Bedeutung des Darmmikrobioms (bzw. der sog. Darm-Hirn-Achse) wurde bereits viel berichtet – ganz neu sind nun die Erkenntnisse eines deutschen Forschungsteams aus Göttingen zu dem Zusammenhang von Lungenmikrobiom und MS. Über die Entdeckung dieser Lungen-Hirn-Achse und die Bedeutung für die ZNS-Autoimmunität berichtete die Forschergruppe vergangenes Jahr (siehe Nature, online seit 23.2.2022). Sie konnte im MS-Tiermodell zeigen, dass das pulmonale Mikrobiom die Fähigkeit zerebraler Mikroglia-Zellen zur Auslösung einer Autoimmunreaktion maßgeblich beeinflusst. Durch die direkt intratracheale Gabe des Antibiotikums Neomycin verschob sich die pulmonale Bakterienflora – es kam zu einer verstärkten Besiedelung mit Lipopolysaccharid (LPS)-produzierenden Bakterien. Mikroskopisch zeigte die Mikroglia daraufhin nicht nur sichtbare Veränderungen mit verminderter Zahl und Länge ihrer Zellfortsätze, sondern sie verlor auch ihre Reaktionsfähigkeit auf experimentelle Stimuli, mit denen bei unbehandelten Tieren sonst eine MS ausgelöst werden kann. Die Beseitigung LPS-produzierender Bakterien in der Lunge mit einem anderen Antibiotikum hingegen verschlimmerte die zerebrale Autoimmunreaktion und die Symptome der Tiere; die erneute Zugabe von LPS kehrte den Effekt wieder um. Die Publizierenden schlussfolgern, dass die Ergebnisse wegweisende klinische Bedeutung haben, denn die pharmakologische Beeinflussung der Lungen-Hirn-Achse (d.h. der Signale des Lungenmikrobioms an die Mikroglia) könnten ein innovatives Therapietarget darstellen.

„Beide Forschungsansätze stehen noch ganz am Anfang, sind aber hochinnovativ und stellen vielversprechende Therapieoptionen dar. Dass beide aus Deutschland kommen, illustriert die Stärke der neurologischen Forschung hierzulande. Es bleibt zu hoffen, dass eines Tages kurative Therapien gegen MS zur Verfügung stehen“, erklärt DGN-Generalsekretär Prof Dr. Peter Berlit abschließend.

Quelle: Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)