„Es geht darum, die Einstiegshürde für den Sport deutlich zu senken und den Menschen mit Multiple-Sklerose-Erkrankung über das Training einerseits die Teilhabe an Aktivitäten gemeinsam mit anderen zu ermöglichen, andererseits aber auch signifikante Verbesserungen im Alltag zu erreichen“, so Kersten, die sich unter anderem auf Bewegungstherapien für Menschen mit Multiple Sklerose spezialisiert hat. Unter ihrer Federführung ist ein Zweiphasenplan entstanden, der Patienten diese aktive Rolle vermittelt, das Selbstbewusstsein stärkt und letztlich dafür sorgt, dass Bewegung langfristig positive Auswirkungen auf den Degenerationsprozess hat.
Ein wesentlicher Aspekt der Betrachtung ist die Ermüdung des Patienten – Fachkreise sprechen über die so genannte „Fatigue“. „Für Menschen mit Multiple-Sklerose-Erkrankung bedeutet Ermüdung etwas grundsätzlich anderes als für einen Gesunden. Sie tritt plötzlich, ohne Vorwarnung und oft in heftiger Form auf“, erläutert Kersten. Das wirke sich natürlich auch auf die sportliche Aktivität aus: Überanstrengung kann hier unter Umständen einen kompletten Knock-out für mehrere Tage bedeuten – mit den entsprechenden Konsequenzen für das gesellschaftliche und berufliche Leben. „Ein MS-Patient tut sich daher mit der grundsätzlichen Entscheidung für den Sport sehr viel schwerer als ein gesunder Mensch.“ Eben aus diesem Grund seien auch starre Trainingspläne mit festen Zeiten mitunter kontraproduktiv. Ist die Fatigue just zur Trainingszeit so enorm, dass nichts mehr geht, bleibt nur die Absage beim Physiotherapeuten – was zusätzlich für ein schlechtes Gewissen sorgt. Auch äußere Einflüsse wie beispielsweise Hitze oder Kälte erlebt der Multiple-Sklerose-Patient wesentlich intensiver als der gesunde Mensch. „Ziel muss es also sein, dass der Patient selbst entscheiden kann, wann und wo er Sport treibt und auch mit wem“, so Kersten weiter. „Gerade diese gesellschaftliche Komponente ist nicht zu unterschätzen, das Gefühl dazuzugehören und gemeinsam mit Freunden und Verwandten aktiv etwas zu unternehmen, steigert die Lebensqualität um ein Vielfaches.“
Der Zweiphasenplan: Von der Schulung zum eigenständigen Training
Selbstbestimmung und Disziplin lassen sich aber nicht ohne Grundlagenwissen und entsprechende Vorbereitung erreichen – da unterscheidet sich der Patient nicht einmal so sehr vom Gesunden. Daher hat Kersten mit Kollegen den Zweiphasenplan entwickelt, der nach einem Eingangstest Training mit intensiver Schulung vorsieht, bevor der Patient über einen gewissen Zeitraum eigenständig trainiert – der Erfolg wird dann nach rund einem Jahr in einem Check gemessen. „Die Vermittlung von Krankheits- und Trainingskompetenz sind essenzielle Bestandteile unseres Plans. Multiple-Sklerose-Patienten bekommen einen fundierten Einblick in wirksame Trainingsmethoden und setzen diese anschließend unter Supervision direkt in die Praxis um“, führt Kersten weiter aus. „Sie lernen, ihren Bewegungsalltag eigenständig zu steuern, Sportphasen einzuplanen und die richtigen Schwerpunkte zu setzen.“ Dabei werden auch Standards gesetzt, viel wichtiger ist aber die individuelle Betreuung. Nicht von ungefähr wird Multiple Sklerose auch als „Krankheit mit den tausend Gesichtern“ bezeichnet und die individuellen Voraussetzungen für Bewegung könnten unterschiedlicher kaum sein.
Schulungsmaßnahmen führen nachweislich zum Erfolg
Quantitative Analysen belegen nun, dass die Schulungen tatsächlich den geplanten Effekt haben, erste Untersuchungsergebnisse zeigen sowohl kurz- wie auch langfristig positive Effekte auf die körperlichen Aktivitäten der Patienten. „Sie gehen selbstbewusster mit ihrer Erkrankung und dem Thema Sport um, die körperliche Leistungsfähigkeit steigt merklich. Die Gangsicherheit erhöht sich, dadurch kann auch die Gehstrecke verlängert werden“, bestätigt Prof. Dr. Christian T. Haas, Forschungsdekan im Fachbereich Gesundheit & Soziales an der Hochschule Fresenius und Direktor des Instituts für komplexe Gesundheitsforschung. Auch die Fatigue-Symptomatik verändert sich. Das auf der Schulung basierende Training sorgt dafür, dass die plötzlichen Erschöpfungszustände weniger werden. In der Folge nehmen die Betroffenen wieder vermehrt am gesellschaftlichen Leben teil, meistern ihren Alltag mit all seinen Herausforderungen besser und können auch wieder anders mit beruflichen Anforderungen umgehen. „Von einigen Patienten wissen wir, dass sie wieder in den Urlaub fahren. Daran haben sie vorher aus Angst vor den plötzlichen Erschöpfungszuständen nicht einmal mehr gedacht“, so Haas weiter. Eine Herausforderung sehen er und Kersten vor allem noch in der Aufklärung. „Nicht alle Multiple-Sklerose-Patienten wissen über Sportmöglichkeiten Bescheid oder scheinen zu wenige Informationen über unterschiedliche Wirkungsweisen von Trainingsmaßnahmen zu haben“, moniert Haas. „Fast schon fatal sind teilweise Empfehlungen, die im Internet nachzulesen sind und jeglicher Evidenzbasierung entbehren.“ Nachweisbar seien Erfolge hingegen beim Laufen, also etwa Jogging und Nordic Walking – oder auch bei Ballsportarten, die ebenfalls laufintensiv sind. „Der Bodenkontakt mit den Füßen ist wichtig“, merkt Haas an. „Dadurch werden Reflexe ausgelöst und Stoffe ausgeschüttet, die Nervenwachstum und –schutz merklich fördern. Deshalb ermutigen wir MS-Patienten, sich über ihre Möglichkeiten aufklären zu lassen, kritisch mit der großen Informationsmenge zum Thema Sport umzugehen und selbstbewusst ihr individuelles Training zu gestalten.“
Quelle: Hochschule Fresenius