Hintergrund: Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems und zählt den so genannten Autoimmunkrankheiten, bei denen das körpereigene Immunsystem aufgrund einer Fehlsteuerung sich gegen gesunde, körpereigene Strukturen richtet. Bei MS-Patienten greifen Abwehrzellen das Nervensystem an, insbesondere die so genannten Myelinscheiden, durch die Nervenfasern umhüllt und somit elektrisch isoliert werden. Nach der Zerstörung der Myelinscheiden ist die Nervenleitungsfunktion verlangsamt, was verschiedene Gehirn- und Rückenmarksfunktionen beeinträchtigt, hauptsächlich aber die Bewegungsfähigkeit und Koordination, den Tastsinn und die Sehfähigkeit der Patienten.
Mit immunmodulierenden Medikamenten lässt sich die oft schubförmig verlaufende Multiple Sklerose (MS) i.d.R. gut unter Kontrolle bringen. Patienten können die Krankheitsaktivität aber zusätzlich auch über die Ernährung positiv beeinflussen. „Aus zahlreichen Studien ist bereits bekannt, dass es für die Abwehrkraft unseres Immunsystems nicht unerheblich ist, was wir essen und wie unser Darm-Mikrobiom sich zusammensetzt“, berichtet Prof. Dr. med. Gereon Nelles, Facharzt für Neurologie und Psychotherapeut in Köln und Vorstandsmitglied des Berufsverbands Deutscher Nervenärzte (BVDN). Man weiß zum Beispiel bereits, dass eine Vitamin-D-Supplementierung das Mikrobiom von MS-Patienten verändern kann, und sich kurzkettige Fettsäuren (wie Propionsäure) positiv auf die Schubhäufigkeit auswirken. Bei vielen anderen Diätformen und Ernährungsempfehlungen mangelt es allerdings nach wie vor an überzeugenden wissenschaftlichen Belegen zur Wirksamkeit. Jetzt weisen aktuelle Studienergebnisse darauf hin, dass eine ketogene Diät (mit vielen gesunden Fetten, wenigen Kohlenhydraten, ausreichendem Protein) und der Verzicht auf Milchprodukte (wie Milch, Quark, Joghurt) positive Effekte auf die Symptomatik bei MS haben könnten (siehe Journal of Neurology, Neurosurgery & Psychiatry, online seit 13.4.2022).
Weniger entzündungsfördernde Substanzen nach ketogener Diät
Nach einer ketogenen Diät für die Dauer von sechs Monaten hatten sich die körperlichen Behinderungen und die Müdigkeit von MS-Patienten verringert, während ihre Gehgeschwindigkeit, Stimmung und Lebensqualität sich verbesserten. Die Blutwerte der Patienten wiesen zum Ende dieser Diät mehr entzündungshemmende und weniger entzündungsfördernde Substanzen auf. Nach Angaben der Forscher kann die ketogene Diät für Patienten mit schubförmiger MS außerdem als sicher und gut verträglich angesehen werden. Sie wirke sich positiv auf Fett-assoziierte Entzündungen aus und trage effektiv dazu bei, das Gewicht der Patienten zu reduzieren, das Auftreten von Depressionen und Müdigkeit zu verringern und ihre Lebensqualität zu erhöhen.
Fett als primäre Energiequelle ermöglicht verstärkten Nervenzell-Stoffwechsel
Eine mögliche Erklärung, warum sich eine ketogene Diät bei MS positiv auswirken kann, liefert eine weitere Studie: Neuroinflammatorische Erkrankungen, die dem Nervensystem schaden, bringen offenbar auch den Energiestoffwechsel des Gehirns aus dem Gleichgewicht. Als Gegenmaßnahme stellt sich der Nervenzell-Stoffwechsel auf Fett als primärer Energiequelle um. „Dabei ist eine ketogene Diät offenbar gut geeignet, um die erforderliche Menge Fett zur Energiegewinnung zu liefern. Das würde einen verstärkten Energiestoffwechsel in den Nervenzellen ermöglichen, so dass sich der Schweregrad der MS-Erkrankung reduzieren kann“, erläutert Prof. Nelles.
Verzicht auf Milchprodukte kann bei manchen MS-Kranken Symptome verringern
Schon seit den 90er Jahren wird vermutet, dass die Häufigkeit von MS-Symptomen mit dem Konsum von Kuhmilchprodukten zusammenhängen könnte. Jetzt wurde in einer aktuellen Studie nachgewiesen, dass in Kuhmilch Proteine enthalten sind, die bei manchen Allergikern Entzündungsprozesse verursachen, die auch den Myelinscheiden der Nervenfasern schaden können. Den Studienautoren zufolge hätten Betroffene vermutlich irgendwann durch den Konsum von Milch eine Allergie gegen das Milcheiweiß Casein entwickelt. Daher produziere ihr Immunsystem nach dem Konsum von Milchprodukten große Mengen an Casein-Antikörpern, die sich auch gegen andere, ganz ähnlich aufgebaute Proteine richten können, die für die Bildung von Myelin verantwortlich sind. So kann es offenbar ausgehend von einer Casein-Allergie aufgrund der Kreuzreaktivität mit anderen Proteinen zu einer Zerstörung der Myelinscheiden kommen. MS-Patienten, die eine Verschlechterung ihrer Symptome nach dem Verzehr von Milchprodukten wahrnehmen, empfehlen die Wissenschaftler der Studie deshalb, Lebensmittel aus Kuhmilch lieber zu meiden. Die Wissenschaftler arbeiten auch an einem Bluttest zum Nachweis von Antikörpern gegen Casein.
Quellen:
Journal of Neurology, Neurosurgery & Psychiatry, online seit 13.4.2022
Science Advances, online seit 16.9.2022
PNAS, online seit 2.3.2022
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