Gerade junge Frauen mit Typ-1-Diabetes leiden fast doppelt so häufig an gestörtem Essverhalten wie gesunde Altersgenossinnen. Verbreitet ist vor allem die Bulimie. Die Kombination ist gefährlich: Betroffene riskieren durch ihren schwankenden Blutzuckerspiegel deutlich früher Folgeschäden an Augen, Nieren oder Nerven. In der neuen Leitlinie „Psychosoziales und Diabetes" empfiehlt die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG), Diabetespatientinnen mit Essstörungen so zeitig wie möglich psychotherapeutisch zu behandeln.
An Bulimie leiden etwa zwei Prozent der 14- bis 20-jährigen Frauen. Sie essen in einem Anfall unkontrolliert viel und versuchen die überschüssigen Kalorien dann durch Diäten, Erbrechen oder exzessiven Sport loszuwerden. Typisch für essgestörte Patientinnen mit Diabetes ist zudem das sogenannte „Insulin-Purging": Sie spritzen sich gezielt zu wenig vom Blutzuckersenker Insulin, um abzunehmen. Durch den niedrigen Insulinspiegel bleibt mehr Zucker im Blut, den die Nieren dann mitsamt den Kalorien über den Urin aus dem Körper schwemmen. Die Frauen verlieren zwar Gewicht, verfehlen aber das Ziel ihrer Diabetestherapie: Ihr dauerhaft erhöhter Blutzuckerspiegel führt deutlich früher zu Schäden an Gefäßen und Nerven als bei nicht essgestörten Patientinnen.
„Schwanken Blutzuckerwert und Gewicht bei einer jungen Patientin mit Typ-1-Diabetes stark, sollte eine Bulimia nervosa in Erwägung gezogen werden", sagt Prof. Dr. med. Stephan Herpertz, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bochum und Mitautor der Leitlinie „Psychosoziales und Diabetes". Bestätigt sich der Verdacht, empfehlen die Experten in dem neuen Behandlungsleitfaden eine Psychotherapie. Dabei sollte sich der Therapeut mit der Zuckerkrankheit auskennen, damit sich die Patientin verstanden fühlt.
Typ-1-Diabetes entwickelt sich häufig im jugendlichen Alter, erläutert Herpertz - einer Zeit also, in der sich Menschen intensiv mit dem eigenen Selbstwert auseinandersetzen. Diagnose und Behandlung der Zuckerkrankheit stellten diesen Selbstwert oft in Frage: Betroffene Jugendliche müssen eine Diät einhalten, auf Alkohol verzichten, Medikamente nehmen, Insulin spritzen. Entwickeln die Patientinnen eine Essstörung, so hänge dies in der Regel mit einem Selbstwertkonflikt zusammen. „Hier muss die Therapie ansetzen", sagt Herpertz. Wichtig sei auch, bei jungen Patientinnen die Familie in die Behandlung mit einzubeziehen.
Neben der Bulimie spielen auch andere Essstörungen bei Menschen mit Diabetes eine Rolle, wie etwa die Binge-Eating-Störung, bei der es mindestens einmal in der Woche zu Essanfällen kommt, die allerdings nicht von gegenregulatorischen Maßnahmen wie etwa Erbrechen gefolgt werden. Sie betrifft vor allem Typ-2-Diabetes-Patienten. Zwar kommt diese Essstörung nicht häufiger vor als bei Menschen mit gesundem Stoffwechsel. Weil die Betroffenen dadurch aber an Gewicht zulegen, wirkt Insulin bei ihnen noch weniger blutzuckersenkend, und der Diabetes verschlimmert sich.
Die DDG empfiehlt im Falle einer Essstörung bei Diabetespatienten eine Psychotherapie. „Ob ambulant, teilstationär oder stationär: Eine Psychotherapie ist die Therapie der ersten Wahl", sagt Privatdozent Dr. phil. Dipl.-Psych. Bernhard Kulzer, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Diabetes und Psychologie der DDG, Bad Mergentheim, Koordinator der Leitlinie. Reine Schulungs- und Selbsthilfe-Programme allein reichten nicht aus, heißt es in der neuen Leitlinie.
Der Heilungsprozess bei einer Psychotherapie beansprucht zwar meist mehrere Monate. Herpertz hebt dafür das oft positive Ergebnis der Behandlung hervor: Bei Typ-1-Diabetikern stabilisiere sich Untersuchungen zufolge der Blutzuckerspiegel nachhaltig und reduziere das Risiko diabetischer Spätschäden.
Quelle: Deutsche Diabetes Gesellschaft