Unsere Welt verändert sich gegenwertig rasant. Die Digitalisierung zeigt eine exponentielle Entwicklung in vielen Lebensbereichen – so auch der Medizin. Auf der einen Seite bestehen mit dieser Entwicklung berechtigte Chancen, dass die digital-gestützte Medizin unter der Voraussetzung qualitätsgesicherter Angebote die Patientenversorgung unterstützen und verbessern kann, und auch die persönlichen Möglichkeiten der Selbsthilfe erweitert. Denn in Anbetracht der Häufigkeit von psychischen Störungen sowie langen Wartezeiten auf einen Therapieplatz gibt es einen deutlichen Bedarf, die psychotherapeutische Versorgung auf breiter Front zu stärken.
Zugleich bringt die digital-unterstützte medizinische Versorgung aber auch große Herausforderungen mit sich und wirft komplexe ethische, gesellschaftliche und rechtliche Fragestellungen auf. Die Schweizer Fachgesellschaft FMPP sieht ihre Mitverantwortung für die Gestaltung der Gesundheitsversorgung der Zukunft und setzt sich mit diesem Thema auseinander. Sie möchte zudem eine zukunftsorientierte Auseinandersetzung mit der rasanten Entwicklung von Versorgungsansätzen im Gebiet der Psychiatrie und Psychotherapie anregen – auch in der Fachöffentlichkeit (siehe: psyCHiatrie - Informationen aus der Fachgesellschaft FMPP 01/19).
Was für digital-gestützte Anwendungen gibt es im Bereich der psychischen Gesundheit?
Um Interessierten einen Einblick in bestehende und noch in der Erprobung befindliche digital-gestützte Versorgungsansätze zu geben, werden digitale Anwendungen innerhalb der psychischen Gesundheitsfürsorge und Versorgung (e-Mental-Health) nachfolgen kurz beschrieben. Die Behandlung psychischer Erkrankungen und Störungen über das Internet befindet sich derzeit noch im Stadium der Erforschung. Ergänzend werden daher einige Zukunftsprojekte in der Schweiz vorgestellt, die aus Sicht von Experten das Potential haben, die Versorgungsperspektive von Menschen mit psychischen Erkrankungen zu verbessern.
Gerade im Bereich der psychischen Gesundheit und Gesundheitsprävention hat sich das Angebot an (geleiteten) Selbsthilfeansätze in den letzten Jahren vervielfacht (Lifestyle-Apps, Online-Programme etc.). Für einige hat sich in Studien die Wirksamkeit in vielen Störungsbereichen gezeigt, während zu vielen erhältlichen Programmen und Apps keine Informationen zur Wirksamkeit sowie aber auch zu möglichen Risiken und Nebenwirkungen vorliegen.
Für Personen, die sich ohne ärztliche Begleitung für solche Anwendungen interessieren oder diese bereits einsetzten, ist es grundsätzlich sehr wichtig, sich mit den Angeboten (zuvor) auseinanderzusetzen und sich über ihre Ansätze, Chancen und auch deren Grenzen zu informieren. Anwender sollten sich im Vorfeld der Nutzung mit inhaltlichen Unterschieden, der Zweckbestimmung und der belegten Wirksamkeit sowie mit dem Datenschutz und der Sicherheit auseinandersetzen. Bei nicht-zertifizierten Angeboten besteht immer auch die Möglichkeit, dass negative Aspekte auftreten können – über diese sollten sich Anwender im Vorfeld informieren können. Lifestyle-Apps sind beispielsweise in dem Moment unzureichend, in dem erste Erkrankungssymptome auftreten oder der Erkrankungsfall eintritt. Digitale Selbsthilfeangebote sollten bei einer Verschlechterung der Symptomatik oder einer akuten Krise unbedingt immer eine weiterführende Hilfestellung für Betroffene bereithalten.
Selbsthilfe-Apps
Auf dem Markt sind unterschiedlichste Angebote so genannter Präventions-Apps (Lifestyle-Apps) erhältlich, die als Stressbewältigungstraining, Achtsamkeitstraining oder als Aktivitätstagebuch Menschen dabei unterstützen sollen, ihre psychische Gesundheit vorbeugend zu fördern. Diese Ansätze sind grundsätzlich wünschenswert und bringen auch ein Potential zur Verbesserung des psychischen Wohlbefindens mit sich. Problematisch ist derzeit aber, dass für diese Angebote noch Wirksamkeitsnachweise fehlen und derzeit keine gesicherten Qualitätskriterien etabliert sind, welche die notwendige Überprüfung auf Wirksamkeit und Sicherheit erlauben. Für Patienten bedeutet dies, dass sie noch keinen nachweisbaren Nutzen solcher Apps garantiert bekommen, die in den Stores angeboten werden. Auch der Umfang möglicher Nebenwirkungen ist nicht definitiv geklärt.
Online-gestützte Interventionen bzw. Internet-Therapie-Programme
Um Menschen über das Medium Internet bei der Bewältigung einer psychischen Symptomatik zu unterstützen, werden so genannte „Internet-Interventionen“ (auch Online-Interventionen oder Internet-Psychotherapie-Programme) entwickelt. Neben einer kurz- und langfristigen positiven Wirkung auf die psychische Belastung, setzen selbsthilfe-orientierte Programme auch beim Empowerment (Selbstwirksamkeit) von Personen an. Online-basierte Interventionen mit psychotherapeutischen Ansätzen beinhalten meist Elemente der kognitiven Verhaltenstherapie.
Die Zahl der Angebote hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Die neuen Methoden reichen von online-basierten Präventivangeboten über interaktive Psychoedukation bis hin zu speziellen online-gestützten Behandlungsprogrammen. Diese Interventionen können therapeutisch begleitet oder unbegleitet sein, sie können vollständig aus der Ferne wahrgenommen werden oder auch in Kombination mit persönlichem Kontakt mit einem Therapeuten. Zur Kommunikation zwischen Patienten und Psychotherapeuten werden E-Mails, Chat (synchron oder asynchron) sowie auch Videokonferenzen (synchron/audiovisuell) eingesetzt.
Einsatzmöglichkeiten von online-gestützten Interventionen bestehen grundsätzlich zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Erkrankungsphasen, also beispielweise präventiv, im Einsatz der so genannten Primärversorgung (z.B. Hausärzte), zur Überbrückung der Wartezeit auf einen Therapieplatz, zur Ergänzung einer Therapie sowie auch nach Abschluss einer Behandlung zur so genannten Rückfallprophylaxe.
Mit den modernen Medien bestehen zudem Strukturen, Menschen in unterversorgten Regionen zu erreichen sowie auch unterversorgte Patientengruppen, also Menschen, die spezielle Therapieangebote benötigen, welche nicht flächendeckend vorhanden sind.
Module, Fragebögen und Selbsttest
Diese Online-Psychotherapie-Programme bestehen oft aus mehreren Modulen, die Teilnehmer etwa ein- bis zweimal wöchentlich bearbeiten sollen. Fragebögen und Selbsttests informieren zum persönlichen Fortschritt und erlauben zugleich eine Reaktion auf ungünstige Entwicklungen sowie auch eine Hilfestellung bei möglichen Krisen. Das Feedback kann automatisiert und standardisiert erfolgen, aber auch in Form einer individualisierten Rückmeldung durch psychologische Berater. Manchmal erfolgt ein persönlicher Kontakt durch Berater auch nur bei Bedarf (Contact on Demand). Die Aufklärung zum Umgang mit Stress, die Motivation zu körperlicher Aktivität oder bestimmten gesundheitsförderlichen Verhaltensweisen sind oft einzelne Bausteine dieser komplexen internetbasierten Interventionen.
Beispielsweise ist bei leichten bis mittelschweren Depressionen die Wirksamkeit einzelner Programme bereits nachgewiesen. Eine computergestützte Verhaltenstherapie kann bei Patienten mit mildem Erkrankungsverlauf die Symptome reduzieren, die Lebensqualität verbessern und eine Therapie optimieren. Onlinebasierte Interventionen können auch im Rahmen der Rückfallprophylaxe eingesetzt werden. Bei schweren Erkrankungsgraden ist eine engmaschige medizinische Überwachung und oft auch die Einnahme von Medikamenten notwendig. Hier stoßen internetbasierte Interventionen klar an ihre Grenzen, sie können aber ergänzend unterstützen.
Virtual Reality-Interventionen
Bei Virtual Reality (VR) handelt es sich um eine künstliche Wirklichkeit, die durch spezielle Hard- und Software erzeugt wird. Mit Hilfe einer VR-Brille werden realitätsgetreue Darstellungen erschaffen und können durch akustische und taktile Reize ergänzt werden. Über verschiedene Geräte ist es möglich, mit der künstlich generierten Umgebung zu kommunizieren und anhand von Gestik, Mimik, Körperhaltung und auch Sprache zu interagieren.
Diese Technik eröffnet Behandlungsmöglichkeiten, welche in der Realität nur schwer oder kompliziert umsetzbar sind. Die Interaktion mit der virtuellen Umgebung erlaubt es, reales Erleben abzubilden und damit unter anderem auch reale Ängste (Reizkonfrontation) oder reales Verlangen nach etwas zu erzeugen. Im Bereich der Angstforschung konnte nachgewiesen werden, dass das Erleben einer Umgebung mittels VR, die gleichen körperlichen Reaktionen erzeugen kann wie eine reale Situation.
So lassen sich mittels Virtueller Realität einerseits die Möglichkeiten der Erforschung von Störungsbildern erweitern. Im Rahmen einer Expositionstherapie kann sie aber auch die Möglichkeiten der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) erweitern. Patienten können in so einer Situation unter therapeutischer Begleitung lernen, mit den eigenen Gefühlen und psychischen Symptomen umzugehen und sie selbstwirksam kontrollieren zu können.
Im Rahmen einer „gemischten Psychotherapie“ (blended therapy) kann konventionelle Psychotherapie auch mit den Einsatz moderner Medien – wie Virtual Reality – kombiniert werden, um die Wirksamkeit der Behandlung zu verbessern.
(Translational) Neuromodeling
Unter translationaler Medizin versteht man interdisziplinäre Aktivitäten, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Erkenntnisse der Grundlagenforschung bzw. präklinischen Forschung möglichst schnell und effizient in die klinische Entwicklung zu führen, um die Patientenversorgung zu verbessern. Neben dieser klassischen Translation hat sich in den letzten Jahren ein neuer Forschungsansatz entwickelt, der sich mit den vorhandenen physiologischen Bedingungen und Einflussfaktoren auf psychiatrische Fragestellungen beschäftigt. Dieses so genannte Translationale Neuromodeling versucht auf Basis mathematischer und algorithmischer Methoden, das Krankheitsverständnis psychischer Erkrankungen zu verbessern. Dabei werden Bildgebungsdaten (Neuroimaging) sowie Elektrophysiologie- und Verhaltensdaten einbezogen, um die individuellen Störungen der Physiologie und Informationsverarbeitung von neuronalen Schaltkreisen verstehen und für die Diagnostik und Behandlung richtig interpretieren zu können. Beim Umgang mit diesen großen Datensätzen werden so genannte Komputationale Methoden eingesetzt, um gemessene oder sichtbar gemachte pathophysiologische Prozesse miteinander in Verbindung zu bringen und gezielte Aussagen zu machen. Dieser Ansatz wird auch als „Computational Assay“ bezeichnet, weil man versucht, standardisierte Test und Modelle zu etablieren. Sie sollen dann unter anderem dazu beitragen, Erkrankungen fundierter von einander abzugrenzen (Differentialdiagnose) oder auch prädikative Aussagen darüber treffen zu können, was für ein individuelles Therapieansprechen zu erwarten ist (prädiktive Test).
Stimmen zu E-Mental-Health und Zukunftsprojekten in der Schweiz:
In einem Übersichtsartikel der Fachinformationen der FMPP sind Experten, die sich mit der Entwicklung und Evaluation von E-Mental-Health-Interventionen bzw. -modellen beschäftigen, zu Wort gekommen (psyCHiatrie - Informationen aus der Fachgesellschaft FMPP 01/19). Nachfolgend sind Auszüge aus einigen Interviews zusammengestellt, um einen kleinen Einblick in die Sicht von Fachexperten und deren Projekten zu geben:
Niederschwellige Therapieangebote bei Suchterkrankungen
Prof. Dr. Michael P. Schaub ist Leiter des Schweizer Instituts für Sucht- und Gesundheitsforschung (ISGF). Dem Experten zufolge können durch digitale Angebote Menschen mit psychischen Erkrankungen erreicht werden, die sonst nicht in die Therapie kommen.
Ihre Forschung setzt auf digitale Interventionen. Warum?
„Wir können damit mehr Patienten erreichen. In Deutschland liegt der Median der Behandlungsverzögerung – also die Zeit die vergeht, bis ein Betroffener fachliche Hilfe in Anspruch nimmt – bei fast 10 Jahren. Um das zu beeinflussen, braucht es neue Angebote. Online-Methoden werden sich daher wie die Pharmakotherapie oder Psychotherapie als weitere Therapiemöglichkeit etablieren. Wir sehen bereits heute, dass bei bestimmten Diagnosen die Onlinebehandlung besser wirkt, als gängige Face-to-Face-Therapien.“
Ein Angstthema ist der Datenschutz. Wie gehen Sie damit um?
„All unsere Tools sind CE-zertifiziert, gelten als «Medical Device» klassifiziert und folgen der europäischen Datenschutzverordnung. Uns liegt das Qualitätslabel sehr am Herzen.
Viele Apps haben das nicht. Von den 67 Interventions-Apps, die wir kürzlich in gängigen App-Stores fanden, war keines auf Wirksamkeit überprüft, geschweige denn CE-zertifiziert.“
VR-Apps für Expositionstherapien
Die Psychologin und eidg. Anerkannte Psychotherapeutin sowie Postdoktorandin an der Transfakultären Forschungsplattform für Molekulare und Kognitive Neurowissenschaften Dr. phil. Dorothee Bentz entwickelt in Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftlern Smartphone-Apps zur Behandlung von Angsterkrankungen. Der Einsatz digitaler Techniken wird gemäß Leitlinien bei psychischen Erkrankungen empfohlen, wenn keine Exposition im echten Leben möglich ist. Virtuelle Realität ist dabei grundsätzlich gut einsetzbar und wird auch zur Behandlung bei verschiedenen Erkrankungen, wie PTBS, Essstörungen oder auch Suchterkrankungen angewendet.
Ist diese Technik für alle Pateinten geeignet?
„Virtuelle Realität ist gut einsetzbar. Bei ca. 10% der Patienten können jedoch Nebenwirkungen auftreten, die «Simulation Sickness» mit Schwindel und Übelkeit. Hier ist abzuwägen, ob der Behandlungsnutzen die Nebenwirkungen überwiegt. Für Personen mit Migräne, Anfallserkrankungen sowie eingeschränkter dreidimensionaler Sicht ist das Verfahren nicht geeignet.“
Wo sehen Sie das Entwicklungspotential für die Zukunft?
„Das größte Entwicklungspotential sehe ich darin, dass diese Behandlungen außerhalb des Forschungskontext derzeit kaum angeboten werden. Die Benutzerfreundlichkeit und Qualität der Virtual Reality-Technik haben sich in den letzten Jahren rasant entwickelt, gleichzeitig sind die Kosten gesunken. Virtual Reality heute auf dem Smartphone kombiniert mit preisgünstigen Headsets erleben zu können, bietet somit großes Potential zur Ergänzung traditioneller Behandlungen in Form von «blended treatments»“, berichtet Dr. Dorothee Bentz gegenüber dem Fachmagazin psyCHiatrie - Informationen aus der Fachgesellschaft FMPP (01/19).
Neuromodeling zur individuellen Patientenversorgung
Die Psychiaterin PD Dr. med. Helene Haker Rössler ist davon überzeugt, dass es die Praxis der Psychiatrie in Zukunft bereichern wird, mathematische Modelle für Differenzialdiagnose, Prognose und Therapie-Prädiktion einzusetzen. Die Expertin für Autismus-Spektrum-Störungen will künftig mit Hilfe von Neuromodeling mehr über die kognitive Informationsverarbeitung bei diesem Störungsbild herausfinden. An der Forschungsambulanz der Translational Neuromodeling Unit (TNU) von der Universität Zürich (UZH) und ETH Zürich, an der Sie ehemalige Leiterin war, werden aber auch Untersuchungen zu Schizophrenie, Depression der Glückspielsucht durchgeführt, um individuelle Eigenschaften der Gehirnaktivität mathematisch zu erfassen und über diesen Ansatz die Patientenversorgung zu verbessern. Erste Studien mit Patienten laufen seit wenigen Jahren. Das langfristige Ziel ist es, Diagnoseverfahren entscheidend zu erleichtern und die Behandlung von Erkrankungen zielgerichteter anbieten zu können.
Was liegt Ihnen im Kontext der digitalen Medizin besonders am Herzen?
„Es braucht Offenheit und behutsame Anleitung, sich ohne Angst diesem neuen Thema zu nähern. Das Neuromodeling ist die psychiatrische Forschungsrichtung, von der ich mir in absehbarer Zukunft die konkretesten klinisch umsetzbaren Neuerungen erhoffe.“
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Es ist davon auszugehen, dass die Bedeutung von Online-Therapien und anderen Online-Angeboten als wichtige Ergänzung des heutigen Therapieangebotes langfristig weiter zunehmen wird. Für Patienten bedeutet dies, auf Qualitätssicherung, Datenschutz und der Bewahrung von Persönlichkeitsrechten zu achten. Auch darf bei allem Fortschritt der Wert von Beziehungen und der große Stellenwert des menschlichen Gegenübers nicht außer Acht gelassen werden, auf den wir Menschen als soziale Wesen angewiesen sind.
Quellen: