Während in der Corona-Pandemie bisher die Behandlung akuter COVID-Fälle im Brennpunkt stand, wird zunehmend auch die Versorgung von Patienten mit Long-COVID erforderlich, die das Gesundheitssystem selbst nach Eindämmung der Pandemie noch belasten dürfte. Long-COVID bezeichnet langanhaltende Krankheitssymptome nach einer überstandenen COVID-19-Infektion, die über einzelne Wochen bis hin zu mehreren Monaten fortbestehen können. Typische Anzeichen für Long-COVID sind Müdigkeit und Erschöpfung (Fatigue), Kopfschmerzen, Kurzatmigkeit und Riechstörungen. „Aber auch neuropsychiatrische Auswirkungen sind häufig und sollten nicht vernachlässigt werden - wie z.B. Angststörungen, depressive Erkrankungen, Schlafstörungen und Symptome eines posttraumatischen Belastungssyndroms (PTBS)“, betont Univ.-Prof. Dr. Klaus Lieb, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz. Nicht selten treten bei Long-COVID aber auch unspezifische neuropsychiatrische Symptome wie Schwindel und ‚Nebel im Kopf‘ auf.
Wirkursachen sind noch unbekannt
Wie es physiologisch durch eine Erkrankung an COVID zu solchen neuropsychiatrischen oder psychischen Folgen kommen kann, ist noch nicht geklärt. Neuroinflammatorische Prozesse als Auslöser werden diskutiert. „Sehr wahrscheinlich ist aber auch, dass psychosoziale Belastungen wie Lockdown-bedingte Isolation, Ungewissheit über den weiteren Verlauf oder die intensivmedizinische Behandlung zur Entwicklung psychischer Probleme beitragen bzw. diese verstärken“, erklärt Prof. Lieb.
Psychische Belastung während der Lockdowns ist angestiegen
Kontaktbeschränkungen und soziale Isolation, Angst vor Ansteckung und Existenzsorgen haben viele Menschen im Verlauf der Pandemie zunehmend verunsichert und seelisch belastet. Einer Umfrage der Deutschen Depressionshilfe im Februar 2021 zufolge ist die psychische Belastung während der Lockdowns für die Mehrheit der Bundesbürger im Verlauf der Pandemie angestiegen. 71 % der Befragten geben an, die Situation als bedrückend zu empfinden – im Vergleich zu 59 % im ersten Lockdown 2020 und 36 % im Sommer 2020. Auch die Analyse einer internationalen Studie zeigt, dass in der Pandemie Angstsymptome, depressive Symptome und Gefühle der Einsamkeit in der Gesamtpopulation deutlich zugenommen haben (siehe Globalization and Health, online am 29.3.2021). Noch sind aber keine verlässlichen Aussagen darüber möglich, ob auch die Zahl der psychischen Erkrankungen während der Pandemie zugenommen hat, da dazu bislang keine epidemiologischen Untersuchungen vorliegen.
Risiko für die Entwicklung oder Verschlechterung psychischer Erkrankungen ist erhöht
Allerdings ist aus anderen Studien bekannt, dass Quarantäne- und Isolationsbedingungen ein Risikofaktor für das Entstehen psychischer Erkrankungen sind, insbesondere für Depressionen, Angsterkrankungen und stressbedingte Erkrankungen. Außerdem hat die Pandemie für Menschen mit einer bestehenden psychischen Erkrankung besondere Belastungen mit sich gebracht, die das Risiko einer Verschlechterung des Krankheitsverlaufs erhöhen. So berichteten im Februar 2021 in einer weiteren Umfrage der Deutschen Depressionshilfe 44 % der Personen, die an einer Depression leiden, dass ihre Erkrankung sich in den letzten sechs Monaten verschlechtert habe oder sie sogar in eine akute Phase zurückgefallen seien. Belastend waren insbesondere fehlende Sozialkontakte, Bewegungsmangel und die Abwesenheit einer festen Tagesstruktur.
Krisenmanagement sollte Maßnahmen zum Schutz der psychischen Gesundheit beinhalten
„Sowohl Kontaktsperren als auch Quarantänemaßnahmen bedeuten soziale Isolierung und haben negative psychosoziale Folgen. Ein verantwortungsvolles Krisenmanagement muss deshalb neben Maßnahmen des Infektionsschutzes auch Maßnahmen zum Schutz der psychischen Gesundheit umfassen. Soziale Unterstützung ist bei der Bewältigung schwieriger Zeiten besonders wichtig“, betont Prof. Lieb. Aus Sicht der Experten der DGPPN, die dem Kompetenznetzwerk „Public Health COVID-19“ – einem Ad-hoc-Zusammenschluss von über 25 wissenschaftlichen Fachgesellschaften aus dem Bereich Public Health – angehören, soll das psychosoziale Krisenmanagement sowohl allgemeine Initiativen zum Erhalt und zur Förderung der psychischen Gesundheit der Bevölkerung beinhalten als auch besondere Maßnahmen für Patienten mit psychischen Vorerkrankungen und für Menschen in akuten psychischen Krisen. Grundsätzlich sollten behandelnde Ärzte und Ärztinnen bei psychiatrischen Komplikationen wie depressiven Episoden, Schlaf- oder Angststörungen stärker aufmerksam werden, und zwar auch bei Patienten ohne psychiatrische Vorgeschichte.
Empfehlungen zur Aufrechterhaltung der psychischen Gesundheit in Vorbereitung
Für die Diagnostik und Behandlung psychischer Auffälligkeiten im Rahmen der COVID-19-Pandemie existieren bislang noch keine spezifischen Empfehlungen. Experten der DGPPN und weiterer medizinischer Fachgesellschaften sind daher aktuell in der Vorbereitung einer Leitlinie „Psychische Gesundheit im Rahmen der COVID-19-Pandemie“, deren Koordinator und Anmelder Prof. Lieb ist. „Das Ziel ist, Informationen zur psychischen Belastung durch COVID-19 zu geben sowie Empfehlungen zur Aufrechterhaltung der psychischen Gesundheit bzw. Hilfestellungen bei Gefährdung derselben“, erklärt Prof. Lieb. „Zusätzlich wollen wir auf dem DGPPN-Kongress Ende November die Auswirkungen der Pandemie auf Betroffene mit psychischer Erkrankung und das Versorgungssystem diskutieren und konkrete Lösungsansätze entwickeln“, berichtet Prof. Lieb.
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