Einwanderung kann eine große persönliche Chance darstellen. Das Verlassen der Heimat und die Anpassung an das Aufnahmeland können aber auch zu großen Belastungen führen, und der seelische Stress sowie Diskriminierung sind Risikofaktoren für psychische Erkrankungen. Bisher gibt es aber keine zuverlässigen Daten darüber, ob und in welchem Ausmaß Menschen mit Migrationshintergrund häufiger erkranken als "Einheimische". Die Studiengruppe "SeGeMi" will darüber Klarheit schaffen. Doch zunächst stellte sich heraus, dass es schwierig ist, Einwanderer aus der Türkei für die Teilnahme an wissenschaftlichen Studien zu gewinnen. Deshalb wurde in einer Vorstudie untersucht, woher die Barrieren und Hemmschwellen kommen. Diese in der Forschung neuartigen Ergebnisse helfen nicht nur bei diesem Projekt weiter.
In Berlin und Hamburg zum Beispiel hat jeweils rund ein Viertel der Bevölkerung einen Migrationshintergrund, die meisten Einwandererfamilien stammen aus der Türkei. Jedoch gibt es kaum zuverlässige medizinstatistische (epidemiologische) Daten über den seelischen Gesundheitszustand von Migrantinnen und Migranten und ihre Inanspruchnahme von Hilfsangeboten. Bekannt sind bisher nur Ausschnitte, zum Beispiel, dass die Suizidrate bei jungen türkischen Frauen etwa doppelt so hoch ist wie bei Gleichaltrigen ohne Migrationsgeschichte*.
Ziel des Projektes "Seelische Gesundheit und Migration" – SeGeMi – ist es, die Situation von Migranten und deren Kindern gerade auch im Hinblick auf ihre seelische Gesundheit zu verbessern und damit einen wichtigen Beitrag zur Integration zu leisten. Im ersten Schritt der Studie stießen die beteiligten Wissenschaftler jedoch auf Schwierigkeiten, Menschen mit türkischem Migrationshintergrund für die Untersuchung – deren Nutzen eigentlich auf der Hand liegt – zu befragen. Deshalb haben sie "Fokusgruppen" eingesetzt, um einen Einblick in die Einstellung der Türken in Deutschland zu bekommen und Hinweise auf die Gründe für die geringe Teilnahme zu gewinnen.
Die Zielgruppe kommt zu WortWer könnte eine Gruppe besser beschreiben und einschätzen, als deren Mitglieder selbst? In Hamburg und Berlin wurden mit ihnen insgesamt fünf Fokusgruppen-Treffen veranstaltet. Die Sitzungen fanden in türkischer Sprache statt, was einen intensiven Austausch zwischen Forschern und türkischstämmigen Menschen verschiedener Bevölkerungsschichten ermöglichte. Im Mittelpunkt stand die Überlegung, wie die zielgruppengerechte Befragung sensibel gestaltet werden und auch, wie eine effektive Medienkampagne zur Gewinnung von Teilnehmern an der Studie aussehen könnte.
Ängste, Datenschutzbedenken und sprachliche HürdenDie Auswertung der gesammelten Reaktionen und Einschätzungen der Fokusgruppen-Teilnehmer machte einige besonders große Hürden für die Teilnahme an Studien deutlich: So wurden Bedenken und Ängste hinsichtlich des Zwecks der Erhebung und Verwendung der Daten geäußert ("Will der Staat uns kontrollieren?"). Neben Misstrauen gegenüber Befragungen, deren Seriosität nicht allen klar ist, und Sprachproblemen wurden auch mangelnde Kenntnis über die Bedeutung wissenschaftlicher Studien, Desinteresse sowie familiäre Probleme als wichtige Faktoren für das Ablehnen der Teilnahme genannt. Ferner wurde von einigen Teilnehmern geäußert, dass eine angemessene Form der Aufwandsentschädigung für ein mehrstündiges Interview die Teilnehmer-Quote erhöhen könnte. Die Fokusgruppen bestätigten zudem die Überlegungen der Wissenschaftler, dass die Befragung der Teilnehmer in ihrer Muttersprache erfolgen muss und dass die Interviewer möglichst das gleiche Geschlecht wie die jeweils Befragten haben sollten.
Das Forscherteam lernt von der ZielgruppeDie Wissenschaftler fragten gezielt nach Ideen zur Steigerung der Akzeptanz und Teilnahme-Motivation innerhalb der türkischen Gemeinschaft. In den Fokusgruppen bestand Einigkeit darin, dass dazu ganz wesentlich der Aufbau persönlicher, vertrauensvoller Beziehungen und Kontakte in die Community gehören. Durch gezielte Werbemaßnahmen und möglichst Berichterstattung in den Medien sollte der Bekanntheitsgrad der bevorstehenden Studie verbessert werden, vor allem auch unter Einbeziehung der türkischsprachigen Medien, aber ebenso durch Nutzung der sozialen Netzwerke der türkischen Bevölkerung (Mundpropaganda) und die Thematisierung in entsprechenden Vereinen, Moscheen, Sprachkursen und bei deutsch-türkischen Veranstaltungen.
Abschlusstreffen und weitere SchritteDiese Anregungen werden nun in Gesprächen mit Multiplikatoren der türkischen Community in Berlin und Hamburg erörtert. Am 14. Dezember 2010 von 10.30 bis 12.00 Uhr veranstaltet die SeGeMi-Forschergruppe gemeinsam mit dem Projekt "Beende Dein Schweigen, nicht Dein Leben" in der Charité eine Diskussionsveranstaltung mit Vertretern der türkischen Migranten. Dazu werden auch Repräsentanten aus Politik, Kultur und Wissenschaft eingeladen. Die Veranstaltung ist für alle Interessierten offen. Ziel ist es, die Botschaft der Notwendigkeit von gleichberechtigter psychosozialer Gesundheitsversorgung für Menschen mit Migrationshintergrund einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln.