Wie gängige Antidepressiva wirken, glaubte man seit 60 Jahren zu wissen. Nun haben Forscherinnen und Forscher des Universitätsklinikums Freiburg bei Mäusen einen zweiten, völlig unabhängigen Wirkmechanismus entdeckt. Bislang war nur bekannt, dass die Antidepressiva den Abbau des Nerven-Botenstoffs Serotonin verlangsamen. Ein zu geringer Serotoninspiegel gilt seit langem als Hauptursache für Depression. Die Wissenschaftler zeigten nun, dass Antidepressiva zusätzlich den Kalziumtransport in Nervenzellen des Gehirns blockieren. Dadurch können die Zellen leichter neue Verknüpfungen zu anderen Nervenzellen bilden. Diese Vernetzbarkeit ist elementar, um sich an neue Reize und Stress anpassen zu können. Bei Depressionen ist diese Fähigkeit vermindert, wie sich in den letzten Jahren herausgestellt hat. Die neuen, am 19. Oktober 2017 im Fachjournal Biological Psychiatry veröffentlichten Erkenntnisse könnten helfen, neue Therapieansätze zu entwickeln.
In Deutschland leiden mehr als vier Millionen Menschen an einer Depression. Jeder Zehnte durchlebt einmal im Leben eine schwere depressive Episode. „Fast alle Medikamente gegen Depressionen, die in den letzten Jahrzehnten auf den Markt kamen, waren lediglich geringfügige Abwandlungen der ursprünglichen Substanzen. Unsere Erkenntnisse können helfen, Medikamente zu entwickeln, die ganz gezielt den neu entdeckten Wirkmechanismus angreifen. Das könnte Menschen helfen, bei denen bisherige Medikamente nicht oder kaum gewirkt haben“, sagt Studienleiter Prof. Dr. Claus Normann, Geschäftsführender Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg.
Wirkung auch ohne eigentlichen Wirkort
Seit den 1960er Jahren ist bekannt, dass im Gehirn depressiver Menschen zu wenig von dem Botenstoff Serotonin gebildet wird. Darum hemmen fast alle Antidepressiva dessen Recycling-Prozess, um so die Menge des verfügbaren Serotonins zu erhöhen. Die Medikamente werden als selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, kurz SSRI, bezeichnet. Die Forscher des Universitätsklinikums Freiburg, der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Universität Basel hatten aber bereits aus Vorstudien den Verdacht, dass dies nicht der einzige Wirkmechanismus ist.
Darum untersuchten sie in einem Tiermodell Mäuse, die keinen Serotonin-Aufnahmemechanismus besaßen. Sie hätten eigentlich nicht auf die SSRI-Gabe reagieren dürfen. „Zu unserer großen Überraschung zeigte sich auch bei Tieren ohne Serotonin-Transporter ein antidepressiver Effekt“, sagt Prof. Normann.
Medikament erleichtert Anpassung und Lernen
Die Freiburger Forscher zeigten, dass die Antidepressiva in einen zentralen Lern- und Anpassungsmechanismus des Gehirns eingreifen, der als synaptische Plastizität bezeichnet wird. Um neue Reize zu verarbeiten und sich an Stress anzupassen, müssen neue Nervenverknüpfungen im Gehirn gebildet werden. Bei Depressiven ist diese Fähigkeit schwächer als bei gesunden.
„Wir haben entdeckt, dass die SSRI-Medikamente diesen Anpassungsprozess normalisieren, indem sie die Kalziumkanäle der Nervenzellen blockieren. Das verhindert eine stressbedingte Depression und hilft Tieren, die bereits depressionsähnliche Symptome zeigen“, sagt Prof. Normann. „Unsere Studie zeigt deutlich, dass diese Blockade ein wesentlicher Wirkmechanismus von Antidepressiva ist.“
Auftreten und Behandlung von Depressionen
Eine Depression kann in jedem Alter auftreten, erstmalig am häufigsten zwischen 20 und 30 Jahren. Die Betroffenen fühlen sich niedergeschlagen, antriebs- und interesselos. Sie schlafen meist schlecht, ermüden schnell und sind oft unfähig, Gefühle zu empfinden. Schwer betroffene Patienten können suizidgefährdet sein. Die Behandlung erfolgt gemäß Leitlinien psychotherapeutisch, bei einer schweren depressiven Episode zusätzlich medikamentös. Insbesondere aufgrund eines häufigen Auftretens von Todesgedanken ist rasche professionelle Hilfe notwendig. Als Auslöser der Erkrankung wird eine Kombination erblicher, lebensgeschichtlicher und aktueller Belastungsfaktoren wie Stress angenommen.
Originaltitel der Arbeit: Antidepressants rescue stress-induced disruption of synaptic plasticity via serotonin transporter-independent inhibition of L-type calcium channels; DOI: 10.1016/j.biopsych.2017.10.008
Quelle: Universitätsklinikum Freiburg auf idw