Eltern wollen das Beste für ihre eigenen Kinder. Welche Rolle spielen dabei aber ihre eigenen Kindheitserfahrungen? Was befähigt Eltern dazu, ihre positiven Kindheitserlebnisse auch in Stresssituationen der Elternschaft an die eigenen Kinder weiterzugeben? Wer in seiner Kindheit Gewalt oder Vernachlässigung erlebt hat, trägt ein erhöhtes Risiko, diese negativen Erfahrungen an sein Kind weiter zu geben. Was befähigt Betroffene dazu, mit dem eigenen Kind dennoch einen besseren Weg zu gehen? Welche Faktoren tragen dazu bei, dass Mütter eine feinfühlige Beziehung zu ihrem Kind aufbauen? In der Studie „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ suchen erstmals in Deutschland Psychologen, Biologen und Mediziner durch einen umfassenden Blick auf Mutter und Kind gemeinsam Antworten auf diese Fragen – die nahe liegen, aber bisher kaum wissenschaftlich untersucht wurden. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert die Verbundstudie über drei Jahre mit 2,4 Mio. Euro.
„Wir haben die einmalige Chance, über einen längeren Zeitraum von den Müttern und den Kindern zu lernen“, erläutert Studienkoordinator Prof. Dr. Jörg M. Fegert, Ärztlicher Direktor der Ulmer Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie. „Wie fließen Kindheitserfahrungen der Mutter in die Beziehung zu ihrem Kind ein? Welchen Einfluss hat das soziale Umfeld dabei? Welche Bedeutung kommt biologischen Faktoren zu? Nur wenn wir wissen, welche Faktoren den Aufbau einer feinfühligen Mutter-Kind-Beziehung fördern, können wir die vielfältigen Hilfsangebote für Eltern danach ausrichten“, so Fegert.
In den kommenden eineinhalb Jahren werden die Wissenschaftler rund 3.800 Mütter, die ihre Kinder in der Ulmer Universitätsklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe zur Welt bringen, um ihre Beteiligung an der Studie bitten. Kurz nach der Entbindung, nach drei und nach zwölf Monaten sammeln die Wissenschaftler in Gesprächen, Fragebögen und durch die Beobachtung von Spielsituationen Informationen u.a. über Kindheitserfahrungen der Mutter und die Beziehung von Mutter und Kind. „Durch die enge Zusammenarbeit unserer Klinik mit der Ulmer Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin können wir hier in einmaliger Weise die Beziehung und Entwicklung von Mutter und Kind gemeinsam analysieren“, betont Professor Fegert. „Dabei können wir auch auf die große Expertise des Ulmer Schwerpunkts Traumaforschung zurückgreifen.“
Auch das soziale Umfeld der Mutter steht im Fokus: „Wir wollen herausfinden, welche Art von Unterstützung Müttern hilft, eine gute Beziehung zu ihrem Kind aufzubauen“, erklärt Dr. Heinz Kindler, Arbeitsgruppenleiter am Deutschen Jugendinstitut in München. „Welche Rolle spielt der Beistand von Vater oder Freunden? Wie gut kommen die Anstrengungen der Kommunen, Familien zu unterstützen, schon an? Was kann konkret verbessert werden, um das Ziel passgenauer Hilfen für Familien zu erreichen?“, so Kindler.
Zudem untersuchen die Forscher biologische Faktoren: „Unsere Gefühle und Erfahrungen spiegeln sich beispielsweise in unserem Hormonhaushalt wider. So beeinflusst Stress unser Hormonsystem, aber auch unser Immunsystem - und damit vermutlich auch wichtige Hormone der Eltern-Kind-Bindung ebenso wie unsere Anfälligkeit für körperliche Erkrankungen“, sagt Prof. Dr. Iris-Tatjana Kolassa, Leiterin der Abteilung für Klinische und Biologische Psychologie am Institut für Psychologie und Pädagogik der Universität Ulm.Um die grundlegenden biologischen Mechanismen in unserem Gehirn im Detail zu verstehen, wird in enger Kooperation mit den klinischen Studien am Institut für Biologie in der Abteilung Zoologie/Entwicklungsneurobiologie der Universität Magdeburg unter der Leitung von Prof. Dr. Anna Katharina Braun ein Tiermodell untersucht. Hieran lässt sich die Hypothese überprüfen, inwieweit frühkindliche Vernachlässigung und Traumatisierung in die neuronale Entwicklung bestimmter Bereiche des Gehirns eingreift, in denen Emotionen verarbeitet werden. Pathologische Veränderungen in diesen Gehirnzentren könnten sowohl die emotionale Bindung zwischen Mutter und Kind beeinträchtigen, als auch zu vermutlich lebenslangen Störungen der Emotionalität führen, die dann an die nächste Generation weiter gegeben werden. Darüber hinaus kann am Tiermodell auch der Einfluss des Vaters auf die Gehirnentwicklung seiner Nachkommen untersucht werden.
„Wirklich neue und fundierte Erkenntnisse kommen immer aus der Langzeitbeobachtung und der gezielten Verknüpfung von Erkenntnissen verschiedener fachlicher Blickwinkel und Methoden. Dafür bietet die Studie ‚Meine Kindheit – Deine Kindheit’ einzigartige Voraussetzungen. Sie ist damit ein wichtiger Schritt, um besser zu verstehen, was Eltern und Kinder beim Aufbau einer guten Beziehung und gegen Gewalt stärken kann“, so Studienkoordinator Fegert.
Quelle: Pressemitteilung Universitätsklinikum Ulm