„Menschen mit einer Körperbildstörung haben häufig eine verzerrte und eingeengte Wahrnehmung bezüglich ihres Körpers. Die realen Körperdimensionen können von ihnen nur undeutlich erfasst werden und werden auch falsch bewertet. Häufig richten Betroffene ihre Aufmerksamkeit selektiv auf Körperpartien wie Bauch, Hüften oder Oberschenkel, die dabei als überdimensional, unförmig oder nicht passend empfunden werden. Für Außenstehende ist es daher oft nicht nachzuvollziehen, warum sich erkrankte Menschen selbst bei einem ausgeprägten Untergewicht als «zu dick» erleben“, berichtet Prof. Ulrich Voderholzer von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) in Berlin. „Bei Erkrankten besteht oder entwickelt sich oft eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem persönlichen Idealbild und der Selbsteinschätzung. Bei magersüchtigen Menschen steht schließlich eine extrem belastende Angst vor einer Gewichtszunahme im Zentrum des Denkens und Fühlens.“ Vielen Essgestörten fehlen ein ausreichendes Krankheitsgefühl und die Krankheitseinsicht, die wichtige Voraussetzungen dafür sind, sich helfen zu lassen. Nicht zuletzt deshalb sind Essstörungen – dabei insbesondere die Magersucht – besonders gefährliche psychische Krankheiten. Magersucht hat mit die höchste Sterblichkeit aller psychischen Erkrankungen.
Wahrnehmungsprobleme betreffen auch Gefühle und Empfindungen
Essstörungen sind häufig mit einer ganzen Reihe anderer psychologischer Störungen oder Probleme verbunden. Kontrolliertes Essen oder extremes Hungern sind für die Betroffenen oft eine Bewältigungsstrategie, um mit inneren Konflikten oder negativen Gefühlszuständen umzugehen. „Neben der Körperwahrnehmung liegt oft auch eine eingeengte Wahrnehmung in Bezug auf die eigenen Gefühlszustände vor. So können beispielsweise Zustände wie Anspannung oder Niedergeschlagenheit nur wenig differenziert oder schlecht wahrgenommen werden. Emotionen werden kaum oder verändert wahrgenommen, mit Körperempfindungen gleichgesetzt oder verwechselt, so dass eine Gemütsverstimmung als «zu dick oder unförmig sein» interpretiert wird“, erklärt der Experte. „Verhaltensweisen, wie Fasten, Erbrechen aber auch Essanfälle dienen dann dazu, um mit unangenehmen Emotionen wie Stress, Angst, Verzweiflung oder auch Einsamkeit umzugehen.“ Kurzfristig stellt sich bei Betroffenen meist eine Erleichterung ein. Werden diese Verhaltensweisen längerfristig beibehalten, verselbstständigen sich die Mechanismen und erlangen einen suchtartigen Charakter. Essstörungen können erhebliche gesundheitliche Folgen haben, die sich organisch manifestieren und sich auch in psychischen Begleit- und Folgeerkrankungen wie beispielsweise Depressionen, Selbstverletzungen oder Angst- und Zwangsstörungen äußern können. Durch eine möglichst frühzeitige Therapie können negative Auswirkungen jedoch begrenzt und behandelt werden.
Schulung der Wahrnehmung ist Therapiebestandteil
Bei adäquater Behandlung können die Patienten von ihrer Essstörung geheilt werden oder den Umgang damit lernen. Die Prognose ist umso besser, je geringer die Zeitdauer zwischen Erkrankungsbeginn und der Aufnahme einer professionellen Behandlung ist. Bei allen Essstörungen ist die Psychotherapie ein elementarer Bestandteil der Behandlung. „Nach entsprechender Befunderhebung und Diagnostik sowie Feststellung des Schweregrades der Erkrankung geht es zunächst darum, eine Normalisierung des Essverhaltens und Gewichtes zu erreichen, sowie psychische Beschwerden und Probleme zu behandeln“, erklärt Prof. Voderholzer. „Das mangelnde Selbstwertgefühl spielt dabei eine wichtige Rolle. In vielen Fällen müssen falsche Körperideale über Schlankheit und Gewicht korrigiert werden und die gestörte Wahrnehmung des eigenen Körpers verändert werden. Ziel der Behandlung ist, den Patienten eine realistische, ausgewogene und angstfreie Betrachtung des eigenen Körpers zu ermöglichen, ihr Selbstwertgefühl zu verbessern und ihnen zu helfen, ein möglichst selbstverständliches gesundes und stabiles Essverhalten zu entwickeln“. Das komplexe Zusammenspiel zwischen körperlichen und psychischen Symptomen erfordert ein vielschichtiges Behandlungskonzept mit fachübergreifender Betreuung. Die Behandlung kann ambulant erfolgen, wobei in schweren Fällen oder wenn keine ausreichenden ambulanten Therapiemöglichkeiten, bestehen stationäre Aufenthalte notwendig sind.
Bei der Entwicklung einer Essstörung spielen u.a. genetische, neurobiologische und psychosoziale Faktoren zusammen. Auch das kulturell bedingte Schlankheitsideal nimmt Einfluss. Essstörungen treten ca. 10-mal häufiger beim weiblichen Geschlecht als beim männlichen Geschlecht auf. Viele Frauen haben nicht die Figur, die in den Medien vorgestellt wird und sie werden unzufrieden mit dem eigenen Körper. Der anfängliche Wunsch, mit Diäten ein paar Kilo abzunehmen und dann das angestrebte Wunschgewicht zu halten, kann dann oft der Einstieg in eine Essstörung, wie die Magersucht oder die Bulimie sein.
Innerhalb der Essstörungen wird zwischen Magersucht (Anorexia nervosa) und Ess-Brechsucht (Bulimia nervosa) unterschieden. Daneben werden auch Essattacken (Binge Eating) und Adipositas zu den Essstörungen gezählt.
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